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Holloway: Öcalans Theorie gibt der Revolution neue Relevanz

 


Der marxistische Denker John Holloway sieht in Abdullah Öcalans Gesellschaftsentwurf eine reale Alternative zum Kapitalismus. Mit ANF sprach er über Parallelen zu den Zapatistas, Kritik am Marxismus und das revolutionäre Potenzial von Rojava.

„Die Revolution neu denken“
 
ZEYNEP KURAY / ISTANBUL, 10. Dez. 2025.

Der marxistische Soziologe John Holloway sieht in den politischen Konzepten des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan einen radikalen Gegenentwurf zur globalen kapitalistischen Ordnung. Die von Öcalan entwickelte Idee des demokratischen Konföderalismus sei mehr als nur ein theoretisches Modell – sie stelle eine reale Möglichkeit dar, gesellschaftlichen Wandel jenseits staatlicher Machtstrukturen zu denken, sagte Holloway bei einem Gespräch mit ANF in Istanbul. Anlass war die von der DEM-Partei organisierte „Internationale Konferenz für Frieden und demokratische Gesellschaft“, zu der zahlreiche politische und wissenschaftliche Akteur:innen eingeladen waren.

Holloway, der seit Jahren in Mexiko lebt und an der Autonomen Universität von Puebla unterrichtet, gilt als einflussreicher Kritiker des orthodoxen Marxismus. Mit seinem bekanntesten Werk „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ wandte er sich früh gegen die Vorstellung, gesellschaftliche Befreiung könne durch die Eroberung staatlicher Institutionen erreicht werden. Stattdessen setzt er auf eine Transformation „von unten“, durch selbstorganisierte Bewegungen, kommunale Strukturen und den Aufbau paralleler Institutionen außerhalb etablierter Machtzentren.

Öcalan und die Kritik am Staatssozialismus

„Abdullah Öcalan hat auf eine sehr präzise Weise mit dem klassischen Marxismus gebrochen“, sagt Holloway. „Er lehnt es ab, den Staat als zentrales Mittel gesellschaftlicher Veränderung zu begreifen – und genau das ist einer der tiefsten Kritikpunkte, die auch ich teile.“

Trotz dieser Nähe zur Öcalan’schen Theorie betont Holloway, dass er den Bruch mit dem Marxismus nicht so grundsätzlich vollziehe. „Ich glaube nicht, dass wir Marx hinter uns lassen müssen – ganz im Gegenteil. Viele seiner Analysen, insbesondere die Kritik der politischen Ökonomie, sind heute aktueller denn je. Aber wir müssen den Marxismus anders lesen: weniger als Anleitung zur Machtübernahme, mehr als Kritik der Herrschaftsverhältnisse.“

Für Holloway liegt der eigentliche Wert von Öcalans Denken darin, dass es politische Perspektiven eröffnet, die über etablierte linke Strategien hinausgehen. Die kurdische Bewegung mit ihren Schwerpunkten auf Frauenbefreiung, ökologischer Nachhaltigkeit und basisdemokratischer Selbstorganisation verkörpere ein alternatives Modell gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Parallelen zur Zapatista-Bewegung

Diese Strategie erinnert Holloway an die zapatistische Bewegung im mexikanischen Chiapas, die seit Jahrzehnten außerhalb staatlicher Kontrolle autonome Strukturen aufgebaut hat. „Sowohl die Zapatistas als auch die kurdische Bewegung setzen auf Selbstorganisation statt Staatsmacht“, sagt er. „Beide versuchen, jenseits kapitalistischer Logik neue gesellschaftliche Räume zu schaffen.“

Auch wenn er selbst nie in Rojava war, habe er die Entwicklungen dort mit großem Interesse verfolgt. Die Berichte über kommunale Strukturen, kooperative Ökonomien und eine konsequent feministische Ausrichtung hätten ihn überzeugt, dass in der Region ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Experiment stattfindet. „Rojava könnte ein Modell gegen den globalen Kapitalismus darstellen“, so Holloway. „Die Idee einer kommunalen, nichtstaatlichen Organisation von Gesellschaft ist nicht nur theoretisch, sie wird hier in der Praxis erprobt.“

„Revolution neu denken“

Für Holloway ist es gerade dieser Praxisbezug, der die Relevanz von Öcalans Theorie ausmacht. „Die Idee von Revolution war in den letzten Jahrzehnten durch autoritäre Staatsprojekte, durch das Scheitern linker Regierungen weitgehend diskreditiert. Öcalans Theorie und die Praxis der kurdischen Bewegung bringen diesen Begriff zurück ins Gespräch – nicht als Rückkehr zu alten Rezepten, sondern als Neuformulierung gesellschaftlicher Hoffnung.“

Diese Hoffnung sei besonders in einer Zeit wachsender globaler Unsicherheit wichtig. Die Klimakrise, die wachsende soziale Ungleichheit und die autoritären Tendenzen weltweit erforderten neue Formen der politischen Organisation. „Wir brauchen Experimente wie Rojava“, sagt Holloway. „Sie zeigen, dass es Alternativen gibt und dass wir die Welt tatsächlich verändern können, ohne die alte Macht zu übernehmen.“

Skepsis gegenüber dem türkischen Staat

Mit Blick auf die aktuelle Lage in der Türkei äußerte sich Holloway zurückhaltend optimistisch. Die Wiederaufnahme von Diskussionen über eine politische Lösung der kurdischen Frage habe ihn überrascht, sagte er, vor allem angesichts der repressiven Haltung der Regierung und der anhaltenden Isolationshaft von Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali. Dennoch halte er eine neue Phase des Dialogs für möglich, auch wenn sie mit Risiken verbunden sei.

„Der Staat neigt dazu, Bewegungen zu absorbieren und zu neutralisieren“, warnt Holloway. „Deshalb ist es entscheidend, dass die kurdische Bewegung ihre radikalen, kommunalen Wurzeln nicht verliert.“ Aus der Distanz beobachte er, dass die kurdische Seite deutlich aktiver nach Lösungen suche, während die türkische Regierung eher auf der Wahrung des Status quo beharre. Eine dauerhafte Lösung könne aber nur gelingen, wenn kulturelle Rechte anerkannt, politische Repräsentation ermöglicht und gesellschaftliche Alternativen ernst genommen würden.

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