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Istanbul: Frauen wegen „Las Tesis”-Performance vor Gericht


In Istanbul wird am Montag gegen sechs Aktivistinnen verhandelt, die nach einer Aufführung der türkischsprachigen Adaption der chilenischen Performance „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg” festgenommen und später angeklagt wurden.

Am Istanbuler Justizpalast Kartal findet am Montag die Hauptverhandlung gegen sechs Aktivistinnen statt, denen im Zusammenhang mit einer Aufführung der türkischsprachigen Adaption der chilenischen Performance „Un violador en tu camino” (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) Verstoß gegen das Versammlungsgesetz vorgeworfen wird. Bei einer Verurteilung droht den Frauen eine Geldstrafe oder sogar Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren. Unter den Angeklagten befindet sich unter anderem auch die Generalsekretärin der Plattform gegen Frauenmorde (Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu, KCDP), Fidan Ataselim. Bei KCDP handelt es sich um eine türkische Frauenrechtsorganisation, die Gewalt gegen Frauen erfasst und sich zur Aufgabe gemacht hat, öffentlich über Feminizide aufzuklären und diese zu verhindern. Zu ihren Kooperationspartnerinnen gehört unter anderem der im kurdischen Amed (Diyarbakir) ansässige Frauenverein Rosa.

Die am 25. November 2019 anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen in Chile erstmalig aufgeführte Performance „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) wird von Frauenbewegungen weltweit übernommen. Doch in keinem anderen Land wird die Aktion so hemmungslos kriminalisiert wie in der Türkei. Dutzende Frauen sind bereits festgenommen worden, gegen einen Großteil wurden Verfahren eingeleitet. In Izmir stehen am 10. November sogar 24 Aktivistinnen aufgrund der Performance vor Gericht.

Aufschrei gegen patriarchale Gewalt

Bei der Performance aus Chile handelt es sich um einen feministischen Wutschrei gegen patriarchale Gewalt, der Frauen in Lateinamerika auf extreme Weise ausgesetzt sind. Nirgendwo sonst auf der Welt werden mehr Frauen gezielt getötet, meist ohne nennenswerte Konsequenzen für den Täter. Vergewaltigungen in Chile bedeuten nur in acht Prozent der angezeigten Fälle eine Verurteilung der Täter, kritisieren die Frauen von Lastesis. In Mexiko-Stadt registrierten die Behörden von Januar bis Oktober 2019 150 Morde an Frauen und 527 Vergewaltigungen. Letztes Jahr im März wurde eine Stadträtin von Rio de Janeiro, Marielle Franco, Menschenrechtsaktivistin und Leiterin des Frauenausschusses im Stadtparlament, in ihrem Wagen erschossen.

In dem Text von „Der Vergewaltiger bist du!“ werden die Strukturen angeklagt, die Gewalt an Frauen dulden, ermöglichen und selbst ausführen: Nicht die Schuld der Opfer sei es, die sich „am falschen Ort“ aufhielten oder „das Falsche trugen“, sondern die der Polizisten, der Richter, des Staats, des Präsidenten. So heißt es unter anderem: „Der Vergewaltiger warst du! Der Vergewaltiger bist du!“

Verfahren zur Einschüchterung der Frauenbewegung

Die Performance in Istanbul fand am 8. Dezember 2019 statt, organisiert wurde sie von der KCDP. Noch während die Performance lief, kesselte die Polizei die tanzenden Frauen ein, bevor die Zusammenkunft gewaltsam aufgelöst wurde. Insgesamt kam es damals zu sieben Festnahmen, die vom Gouverneur von Istanbul mit dem Text der Performance begründet wurden. Nur eine der Betroffenen konnte nach einer polizeilichen Vernehmung wieder auf freien Fuß, gegen die restlichen Frauen wurden gerichtliche Meldeauflagen angeordnet und Verfahren angestrengt.

Fidan Ataselim glaubt, dass der morgige Prozess nur die Funktion habe, die Frauenbewegung einzuschüchtern. „Gleichzeitig soll damit die Mentalität der patriarchalen Vorherrschaft gestärkt werden”. Ataselim weist darauf hin, dass in der Türkei noch nie so viele Femizide und verdächtige Todesfälle von Frauen erfasst wurden, wie in diesem Jahr. „Die wirksame Umsetzung der Istanbul-Konvention würde all dem ein Ende setzen. Statt sie anzuwenden, werden aber Frauen, die dafür kämpfen, kriminalisiert.”

Hintergrund: Die Istanbul-Konvention

Die Istanbul-Konvention - das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt - wurde 2011 vom Europarat als völkerrechtlicher Vertrag ausgefertigt und trat im Jahr 2014 in Kraft. Er gilt als Meilenstein im Kampf gegen patriarchale Gewalt und verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen sowie die Präventions- und Hilfsangebote zu verbessern. Die Türkei unterzeichnete als erstes Land die Konvention und ratifizierte den Vertrag 2012 im Parlament, doch in der Praxis werden die Rechtsnormen nicht angewandt. Weder werden die vorgesehenen Hilfsangebote und Schutzmaßnahmen für Frauen realisiert, noch wird beispielsweise das Gesetz Nr. 6284, das nach Angaben der AKP-Regierung als „Schutzmantel für Frauen“ wirken soll, effizient durchgesetzt. Und das, obwohl in dem Land am Bosporus Frauenhass und Gewaltexzesse an Frauen keine Seltenheit sind, sondern das patriarchale Fundament der Gesellschaft darstellen. Allein im vergangenen Jahr wurden nach Angaben von KCDP 474 Femizide registriert, dennoch diskutiert die Regierung von Staatspräsident Erdoğan über einen Austritt aus der Istanbuler Konvention – weil sie traditionelle Werte „untergrabe“ und Männer zu „Sündenböcken“ mache.

Frauenbewegung kämpft auch gegen andere Gesetzesvorhaben der Regierung

Die Frauenbewegung in der Türkei, die als letzte Bastion der Hoffnung im Kampf um Selbstbestimmung, Demokratie und Freiheit gilt, läuft bereits seit Monaten Sturm gegen die Pläne der AKP und fordert, dass die Regierung den Verpflichtungen des Abkommens nachkommt. Zudem verlangen die Frauenorganisationen die Rücknahme eines Gesetzentwurfs, der einem Vergewaltiger Strafmilderung zusichert, wenn dieser sein Opfer heiratet. In dem erstmals 2003 entworfenen Text heißt es, sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Minderjährigen könnten rückwirkend für straffrei erklärt werden, wenn der Altersunterschied zwischen den beiden nicht mehr als fünfzehn Jahre beträgt, das Opfer den Täter nicht angezeigt hat und einer Ehe zustimmt. Das Gesetz scheiterte bislang trotz mehrmaliger Versuche am Protest der Frauenbewegung. Hier argumentiert die Regierung, die Frauenorganisationen verträten nicht die „durchschnittliche türkische Frau“.

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