Kampagne ezidischer Frauen gegen steigende Selbstmordrate
Im ezidischen Hauptsiedlungsgebiet Şengal steigt die Selbstmordrate seit dem Genozid durch den IS 2014 anhaltend. Betroffen sind vor allem Frauen und Jugendliche. Nun will die ezidische Frauenbewegung das Problem mit einer Kampagne aktiv angehen.
Zahlreiche Genozide und Massaker kennzeichnen die ezidische Geschichte. Anhaltende Diskriminierung, fehlende Unterstützung beim Wiederaufbau und die Diskreditierung ihres Rechts auf Selbstbestimmung prägen die Realität der ezidischen Bevölkerung insbesondere in ihrem Hauptsiedlungsgebiet Şengal. In der Folge steigt die Selbstmordrate kontinuierlich an. Betroffen sind vor allem Frauen und Jugendliche.
Die Bewegung freier ezidischer Frauen (TAJÊ) hat daher vor rund einer Woche die Kampagne „Töte dich nicht, jeder Selbstmord ist ein Todesurteil“ ausgerufen, um auf die gravierenden Konsequenzen dieser Realität für die uralte Glaubensgemeinschaft aufmerksam zu machen und ihnen ein Ende zu setzen. Eine Vielzahl von Institutionen unterstützt diesen Aufruf bereits, unter ihnen die Union junger ezidischer Frauen sowie der Demokratische Autonomierat von Şengal (MXDŞ). In einer aktuellen Stellungnahme erklären auch die Fraueneinheiten Şengal (YJŞ) ihre Teilnahme an der Kampagne.
Kampagnenauftakt
Im Rahmen einer Pressekonferenz im Şehîd Dijwar Park in Xanesor erklärte die TAJÊ auf Kurdisch und Arabisch die Hintergründe der neuen Kampagne. Die ezidische Gemeinschaft habe trotz der Historie von Angriffen aller Art, ihre Kultur und ihren Glauben bewahren können. Diese Angriffe, die sich insbesondere gegen Frauen und Jugendliche wendeten, seien derweil aber nicht ohne ernst zu nehmende Folgen für die ethnoreligiöse Gruppe geblieben, sondern hätten zu tiefgreifenden sozialen Problemen geführt, legte die Frauenorganisation dar.
Wörtlich hieß es in der Erklärung: „Insbesondere in den letzten Jahren ist die Selbstmordrate stark angestiegen. Wir halten diese Situation für sehr gefährlich und besorgniserregend für unsere Gemeinschaft. Diese Situation betrifft vor allem Frauen und Jugendliche. Untersuchungen zufolge gehören zu den Gründen für Selbstmord familiärer Druck, finanzielle Probleme, Hoffnungslosigkeit gegenüber dem Leben und moralischer Verfall unter dem Deckmantel der Liebe. Die Glaubensvorstellungen und die Natur der Ezid:innen sehen ein gemeinschaftliches und gleichberechtigtes Leben vor, doch die heutige Realität ist davon weit entfernt.“
Das Patriarchat als Wurzel des Problems
Die ezidischen Frauen kontextualisierten diese Realität auch in den aktuellen Entwicklungen im Irak, der erst jüngst unter bestimmten Voraussetzungen die Kinderehe wieder eingeführt hat. Dies gelte ebenfalls als Ursache für Selbstmorde.
Tief verankerten patriarchalen Strukturen gelte es, entschieden entgegenzutreten, meint die TAJÊ: „Die in unserer Gesellschaft vorherrschende Sexismus und männliche Dominanz behindern auch die Gleichstellung der Geschlechter. Solange diese Mentalität nicht überwunden wird, wird es weiterhin Selbstmorde geben und es wird nicht möglich sein, eine freie und gleichberechtigte Gesellschaft aufzubauen.“
Mit „Jin Jiyan Azadî“ zur Befreiung
Auf diesem Hintergrund rief die ezidische Frauenbewegung dazu auf, sich dieser Normalität und diesem Schicksalsglauben vehement entgegenzustellen. Familien sollten sich in diesem Sinne für die Bildung ihrer Kinder und Jugendlichen verantwortlich fühlen. Vor allem die Frauen und die Jugend müssten sich selbst ermächtigen, hieß es in der Erklärung: „Unsere Initiative basiert darauf, die Gesellschaft mit ‚Jin Jiyan Azadî‘ zu erreichen und aufzuklären.
Im Rahmen dieser Initiative werden wir verschiedene Veranstaltungen organisieren. Wir glauben, dass wir Selbstmorde verhindern können, wenn unsere Gesellschaft, unsere Frauen und unsere Jugendlichen sich dieser Initiative mit einer gemeinsamen Haltung anschließen.“
Breite Unterstützung
Bei der Pressekonferenz zeigten die Union junger ezidischer Frauen sowie die unterschiedlichen Institutionen der demokratischen Selbstverwaltung Şengals ihre Unterstützung und ihren gemeinsamen Willen und waren mit Vertreter:innen vor Ort.
Gemeinsam sehe man sich in der Lage und Verantwortung die Problematik lösungsorientiert anzugehen: „Als Frauenbewegung, autonome Verwaltung und alle ihr angeschlossenen Institutionen und Organisationen sehen wir uns für die Lösung der Probleme unserer Gesellschaft verantwortlich. So wie wir seit elf Jahren allen politischen, sozialen, physischen und kulturellen Angriffen standhaft begegnen und die Lösungskraft und den Willen unserer Gesellschaft verkörpern, werden wir auch in Zukunft dafür kämpfen. Die Kraft und Quelle unseres Kampfes sind die Ideen und die Philosophie von Rêber Apo.“

Frauenverteidigung stellt sich gegen Spezialkrieg
Auch die Fraueneinheiten Şengal (YJŞ) erklärten in einer aktuellen Stellungnahme ihre Unterstützung der Kampagne. Hierbei beriefen sie sich auch auf religiöse Grundannahmen des Ezidentums und konstatierten, dass Selbstmord im Widerspruch zum gemeinschaftlichen Wesen des ezidischen Glaubens stehe und als eine der größten Sünden gelte.
In der Erklärung wurde betont, dass die Bevölkerung von Şengal in den letzten Jahren schweren Formen der Gewalt ausgesetzt war und dass die psychologischen, kulturellen und physischen Auswirkungen dieser Gewalt auf Frauen und junge Menschen nicht ignoriert werden dürften, da sie als eine der Methoden der besonderen Kriegsführung fungiere.
Überleben als Quelle des Selbstbewusstseins
In Anbetracht der gewaltvollen Geschichte des ezidischen Volkes, so die YJŞ, könne der immer wieder erfolgreich geleistete Widerstand und das Überleben als Quelle des Selbstbewusstseins dienen. Vor diesem Hintergrund dürfe sich die Gemeinschaft nicht in Hilflosigkeit treiben lassen.
In den Angriffen sieht die Frauenverteidigung die Ursache für umfassende soziale Probleme. Dennoch hält sie klar daran fest, dass Selbstmord keine Lösung sei: „Wenn sie selbst keine Lösung herbeiführen können, greifen sie zum Selbstmord. Aber Selbstmord ist keine Lösung. Als Frauenarmee finden wir das nicht akzeptabel und lehnen es ab. Das ist extrem gefährlich für das Volk der Ezid:innen, und die Gesellschaft wird auf diesem Weg in Richtung Verschwinden getrieben.“
Die Philosophie Abdullah Öcalans als Leitfaden
Die aktuelle Realität, so führten die YJŞ aus, stehe im Widerspruch zum gleichberechtigten und gemeinschaftlichen Leben, dass der ezidische Glaube vorgebe. Demgegenüber wollten auch sie alles in ihrer Macht stehende tun, um sie zu verändern: „Unser Volk ist nicht allein, wir stehen hinter unserem Volk. Keine Frau ist allein, wir stehen hinter allen Frauen!“
Hierfür betonten sie insbesondere die Kraft der Philosophie Abdullah Öcalans als Ausgangspunkt neuer Inspiration und Hoffnung: „Herr Öcalan bewertet die Realität der Gesellschaft und die Probleme der Gesellschaft im Detail. Jedes Individuum, das glaubt, sein Leben sei in einer Sackgasse angelangt, kann sich durch die Ideen und die Philosophie von Herrn Öcalan aus der Dunkelheit befreien und Klarheit erlangen.“
Die YJŞ-Erklärung endete mit folgendem Aufruf: „Lasst uns das Leben durch die Ideen und die Philosophie von Abdullah Öcalan sinnvoll und nachhaltig gestalten.“
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