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Bereits mehr als 380 Femizide in der Türkei in diesem Jahr

 


In der Türkei wurden seit Jahresbeginn mindestens 383 Frauen Opfer eines Femizids. Expertinnen wie Derya Yıldırım von der Anwaltskammer Amed kritisieren: Schutzgesetze bleiben oft wirkungslos, staatliche Strukturen versagen beim Schutz von Frauen.

Kritik an mangelnder Umsetzung von Schutzgesetzen
 
ANF / AMED, 1 Nov. 2025.

In der Türkei sind seit Jahresbeginn mindestens 383 Frauen durch Männer getötet worden. Das geht aus den aktuellen Zahlen der Frauenplattform für Gleichberechtigung (EŞİK) hervor. Im Durchschnitt sterben demnach täglich drei Frauen an geschlechtsspezifischer Gewalt. Expertinnen machen die mangelnde Umsetzung bestehender Schutzgesetze sowie staatliches Versagen für die hohe Zahl an Femiziden verantwortlich.

Tägliche Gewalt, unzureichende Maßnahmen

Allein in der vergangenen Woche wurden vier Frauen von (Ex-)Partnern getötet – obwohl gerichtliche Schutzanordnungen vorlagen. Die Betroffenen befanden sich entweder in Scheidungsverfahren oder hatten die Trennung vollzogen. In vielen Fällen zeigten sich erneut Lücken in der praktischen Umsetzung von Schutzmaßnahmen wie Kontaktverboten oder Näherungsverfügungen.

Nach Angaben von Frauenrechtsorganisationen meiden immer mehr betroffene Frauen die offiziellen Beschwerde- und Schutzmechanismen. Grund sei das weit verbreitete Misstrauen gegenüber Polizei, Justiz und Behörden.

„Das ist kein Einzelfall, sondern System“

Derya Yıldırım, Vorstandsmitglied der Anwaltskammer in der kurdischen Provinz Amed (tr. Diyarbakır), kritisiert: „Wenn Frauen trotz mehrfacher Hilferufe nicht geschützt werden, handelt es sich nicht um individuelles Versagen, sondern um ein strukturelles Problem.“ Schutz existiere häufig nur auf dem Papier, in der Realität fehlten Umsetzung, Kontrolle und Konsequenz.

Derya Yıldırım

Insbesondere das System gerichtlicher Schutzanordnungen erweise sich als unzureichend: „Ein Näherungsverbot ist wenig wert, wenn keine Kontrolle erfolgt und der Täter trotzdem auftaucht. Den Frauen wird geraten, die Polizei zu rufen, aber dann ist es oft zu spät.“

Kritik an Politik: Rückzug aus Istanbul-Konvention als Wendepunkt

Yıldırım verweist auf den Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention 2021 als negativen Wendepunkt. Die Entscheidung sende ein fatales Signal: „Wenn der Staat aus einer Übereinkunft zum Schutz von Frauen aussteigt, vermittelt das auch den Tätern: Frauenrechte haben keine Priorität mehr.“

Die Folge: eine zunehmende Entmutigung der Betroffenen und eine Stärkung patriarchaler Gewaltmuster. „Wenn der Staat Schutzgesetze aufgibt oder nicht umsetzt, empfinden Täter das als Freibrief“, so Yıldırım.

Systemische Mängel: Zu wenig elektronische Fußfesseln, keine Risikoanalysen

Ein weiteres Problem ist die lückenhafte technische Infrastruktur. Die Zahl verfügbarer elektronischer Fußfesseln sei unzureichend, heißt es. In manchen Fällen könnten Täter trotz richterlicher Anordnung ungehindert ihre Wohnung verlassen. Auch das habe bereits zu tödlichen Gewalttaten geführt.

Zudem fehle es an standardisierten Risikoanalysen, präventiven Kontrollen und persönlichem Schutz durch Polizei oder Ordnungsbehörden. Viele Frauen würden gar nicht mehr aktiv überwacht oder kontaktiert, auch nicht nach bereits erlassenen Schutzanordnungen.

Forderungen: Konsequente Umsetzung statt neuer Gesetze

Yıldırım fordert keine neuen Gesetze, sondern die konsequente Anwendung bestehender Vorschriften. „Die rechtlichen Grundlagen sind vorhanden – sie müssen endlich durchgesetzt werden“, so die Juristin. Nötig seien unter anderem:

▪ Strafrechtliche Sanktionen gegen Beamte, die Schutzanordnungen nicht umsetzen,

▪ Abschaffung von Strafmilderungen wie „gute Führung“ oder „Provokation“,

▪ Verpflichtende Schulungen für Polizei, Justiz und Verwaltung im Bereich geschlechtsspezifischer Gewalt,

▪ Wiedereinführung der Istanbul-Konvention als politisches Signal für aktiven Gewaltschutz.

Frauenmorde sollten zudem künftig als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden, betont Yıldırım.

„Verantwortung liegt beim Staat“

Die Juristin unterstreicht: „Wenn Schutzanordnungen ignoriert und Täter nicht kontrolliert werden, trägt der Staat Verantwortung für die Folgen. Das Vertrauen der Frauen in das Rechtssystem schwindet, und mit ihm ihre Chance auf Schutz.“ Nur ein glaubwürdiger, lückenloser Vollzug bestehender Gesetze könne die Zahl der Femizide senken. Der politische Wille dazu sei jedoch bislang nicht erkennbar.

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