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Konföderation Rojava: Die gelebte Utopie einer freien Gesellschaft


Die Revolution in Rojava ist mehr als ein politischer Umbruch – sie ist ein gelebtes Experiment für eine neue Gesellschaftsform jenseits von Nationalstaat, Patriarchat und kapitalistischer Moderne.

13 Jahre Revolution von Rojava
 
NEWROZ RISTEM / ANF, 19. Juli 2025.

In Rojava war die Befreiung des Landes von der Besatzung nicht das alleinige Ziel. Viel bedeutender war der Aufbau eines neuen Gesellschaftssystems, das auf der Partizipation des Volkes und der Freiheit der Frau basiert. Diese Einschätzung bildet die Grundlage für das Verständnis der Rojava-Revolution – nicht als militärische oder traditionelle politische Bewegung, sondern als tiefgreifenden sozialen und philosophischen Wandel.

Mit dem Beginn des Aufstands 2011 in Syrien wählte das kurdische Volk eine eigene Strategie im Umgang mit dem autoritären Regime. Diese Strategie bestand nicht nur im militärischen Widerstand, sondern auch in einem gesellschaftlichen Projekt, das eine freie und unabhängige Gesellschaft durch Volksbeteiligung anstrebt. Dieser Weg stellt eine Revolution dar, die über klassische Modelle autoritärer oder nationalstaatlicher Systeme hinausgeht.

Der dritte Weg: Eine Alternative zum Nationalstaat

Von Beginn an lehnte die Rojava-Revolution es ab, Teil der bestehenden politischen Kräfte zu sein. Sie akzeptierte weder das Assad-Regime noch die islamistisch-sektiererische Opposition als Alternative. Im Herzen dieses Konflikts wurde ein neues Projekt vorgeschlagen: der dritte Weg.

Diese Option ist weder neutral noch passiv – sie lehnt den Nationalstaat als Lösung entschieden ab. Abdullah Öcalan stellt in seinen Analysen klar: „Der Nationalstaat ist nicht die Lösung, sondern das Problem.“

Auf dieser Grundlage ist der dritte Weg nicht nur eine politische Strategie, sondern ein umfassendes Modell, das sich gegen die kapitalistische Moderne und traditionelle Regierungsformen richtet. Wie Ilham Ehmed, Außenbeauftragte der Demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien, erklärt: „Unsere Revolution wartet nicht auf äußere Siege. Wir organisieren uns Tag für Tag selbst.“

Wer füllt das Vakuum nach dem Zusammenbruch des Nationalstaats?

Nach dem Fall eines autoritären Regimes stellt sich die entscheidende Frage: Wer füllt das entstehende Machtvakuum? Gegenüber radikalen, aber gesellschaftlich entwurzelten Projekten darf dieses Vakuum nicht unbesetzt bleiben.

Hier bietet sich der dritte Weg als realistische und notwendige Alternative an. Er wartet nicht auf den Zusammenbruch alter Macht, sondern beginnt im Hier und Jetzt mit dem Aufbau einer freien Gesellschaft – durch Kommunen, kollektive Partizipation, Frauenorganisationen und das alltägliche Leben.

Rojava wartete nicht auf den „Sturz Assads“, sondern startete die echte Revolution: den Wiederaufbau der Gesellschaft – nicht die Reproduktion alter Machtstrukturen.

Die eigentliche Grundlage des dritten Weges ist ein kollektives Projekt, das nicht auf neue Herrschaft zielt, sondern auf Werkzeuge für ein selbstbestimmtes Leben. In der Geschichte wurden politische Systeme häufig lediglich durch neue Eliten oder alte Denkweisen ersetzt. Rojava hingegen setzte auf ein anderes Prinzip:

* Keine Entscheidungen ohne die Gesellschaft

* Keine Führung ohne Frauen

* Keine Macht ohne gesellschaftliche Verantwortung

Diese Sichtweise entlarvt das „männlich-nationalstaatliche Einparteiensystem“.

„Jin, Jiyan, Azadî“: Die Grundlage der Jineolojî

Die Revolution wurde nicht im Namen einer Nation geführt, sondern für all jene, deren Stimmen zum Schweigen gebracht wurden. Rojava wurde nicht als Projekt zur Errichtung eines kurdischen Nationalstaats konzipiert. Es gab weder nationalistische Parolen noch nationale Fahnen. Stattdessen entstand ein freies Modell, das den Nationalstaat ablehnt und eine partizipative, vielfältige Gesellschaft unter weiblicher Führung aufbaut – definiert nicht durch ethnische Zugehörigkeit, sondern durch die Menschen der Region.

Die erste Parole der Revolution lautete: „Jin, Jiyan, Azadî“ – „Frau, Leben, Freiheit“.

Diese Losung überwindet Identitäten und spricht die Sprache der Menschlichkeit.
Sie richtet sich gegen Faschismus, patriarchale Strukturen, Sexismus, Diskriminierung und jede Form der Machtausübung – auch wenn sie im Namen von Religion oder Nation erfolgt.

Die Revolution erklärte: Nationale und konfessionelle Grenzen zählen nicht – im Zentrum steht die Menschlichkeit.

Die Rojava-Revolution zeigte, dass die Freiheit der Gesellschaft ohne die Freiheit der Frau nicht möglich ist. Wahre Freiheit existiert nicht im Rahmen des Nationalstaats.
Daher ist die Rojava-Erfahrung kein nationalistisches Projekt, sondern ein radikales Modell zur Überwindung des Staates – insbesondere des Nationalstaats.

Jineolojî als Wissenschaft der Frau

Der Vordenker Abdullah Öcalan bezeichnet Jineolojî als „Wissenschaft der Frau“. Seiner Analyse nach war „die Frau die erste Kolonie“ – und alle anderen Formen der Herrschaft reproduzieren diesen Ursprung. In seinem Werk „Befreiung des Lebens: Die Revolution der Frau“ schreibt er: „Das Leben zu befreien ist ohne eine radikale feministische Revolution, die das Denken und Leben des Mannes verändert, nicht möglich. Wenn wir keinen Frieden zwischen Mann und Leben, zwischen Leben und Frau schaffen können, bleibt Glück nur ein leerer Wunsch.“

Die führende Rolle der Frauen in der Revolution

Vom bewaffneten Kampf bis zur politischen und ideologischen Führung: Frauen waren nicht nur Teil der Revolution, sondern ihre Vorreiterinnen. Sie führten den Aufbau einer demokratisch-partizipativen Gesellschaft in Rojava an – kämpften an vorderster Front und schützten das Projekt politisch: ein dezentrales, gerechtes und grenzüberschreitendes Modell.

Dieser Wandel war kein Zufall, sondern Ergebnis eines kollektiven Bewusstseins, das auf Abdullah Öcalans Philosophie basiert.

Volksbeteiligung ist ohne die Freiheit der Frau nicht denkbar. Daher sind Organisationen wie „Kongra Star“ – 2005 in Rojava als Dachverband für Frauen gegründet – , Frauenräte und gemischte Gerichte nicht nur Verwaltungsstrukturen, sondern tragende Grundpfeiler.

Ein neues Machtmodell: keine Herrschaft, sondern Teilhabe

Die Präsenz von Frauen in Rojava ist kein symbolisches Zugeständnis, sondern Ausdruck einer grundlegenden Neudefinition der Revolution. Eine Freiheitsbewegung, die bei Alltagsentscheidungen ansetzt und die Macht von der Straße bis zur institutionellen Ebene (50%-Repräsentation) neu verteilt.

Dieses Bewusstsein – dass „Freiheit ohne Freiheit der Frauen unvollständig ist“ – ist Kern von Abdullah Öcalans Denken. Alle Formen der Macht begannen mit der Unterdrückung der Frau – und die Revolution beginnt mit dem Bruch dieser Kette.

Eine organisierte Gesellschaft gegen den autoritären Staat

Die Rojava-Revolution richtete sich nicht nur gegen das Assad-Regime, sondern war von Anfang an ein Projekt zum Aufbau eines alternativen Gesellschaftsmodells – jenseits von Staat und Herrschaft.

Während die Opposition auf den Sturz des Regimes wartete, begann Rojava mit der Organisation seiner Selbstverwaltung durch Räte, Kommunen und gesellschaftliche Beteiligung.

Nach Öcalan ist der Staat kein neutrales Werkzeug, sondern ein Mittel zur Kontrolle – und muss grundlegend überwunden werden. Macht existiert nicht nur im Staat, sondern verteilt sich ungleich in der Gesellschaft selbst. Daher braucht es einen Wandel – nicht nur an der Spitze, sondern in der Struktur selbst.

Demokratischer Konföderalismus als Alternative

Das Modell in Rojava basiert nicht auf einem „Post-Staat“, sondern auf einem „Post-Macht“-Ansatz. Politik bedeutet hier nicht Wahlen oder Bürokratie, sondern gesellschaftliches Handeln – Selbstorganisation durch Räte, Kommunen und Institutionen. Dieses Modell ist realistisch: dezentral, nicht-hierarchisch, partizipativ – mit Frauen im Zentrum. Abdullah Öcalan bezeichnet den Demokratischen Konföderalismus als „den ethischen, politischen und administrativen Ausdruck der Gesellschaft“. Es ist nicht nur ein Regierungssystem, sondern eine Lebensweise, die auf ethischen Prinzipien, kollektiver Beteiligung und Selbstverwaltung beruht.

Nicht „nach Assad“, sondern „nach der Macht“

Rojava strebt nicht nach Machtbeteiligung „nach Assad“, sondern beschreitet einen Weg jenseits der Macht selbst. Ein Modell, das keinen Präsidenten braucht – sondern eine Gemeinschaft, die sich kollektiv selbst führt. Während sich andere um den Thron in Damaskus streiten, geht Rojava einen anderen Weg: den Aufbau einer freien Gesellschaft, definiert nicht durch eine Hauptstadt, sondern durch kollektive Teilhabe. Das Ziel ist keine temporäre Lösung, sondern eine langfristige Revolution, die mit der zentralen Frage beginnt: Wie können wir ein Leben gestalten, das keinen Präsidenten braucht?

Ethisches Engagement und ständige Erneuerung

Was Rojava auszeichnet, ist seine Lebendigkeit und Anpassungsfähigkeit – es entwickelt sich im Einklang mit den Bedürfnissen der Gesellschaft weiter. Gleichzeitig bewahrt es seinen ethischen Kern: den Aufbau einer partizipativen Gesellschaft, die Freiheit, kulturelle Vielfalt und Gleichberechtigung achtet.

Doch die Frage bleibt: Können wir dieses ethische Engagement im Spannungsfeld von Krieg, Politik, Wirtschaft und Kultur bewahren? Wie verhindern wir, dass das Projekt in staatliche Formen oder symbolische Machtpositionen abgleitet?

Rojava gibt keine endgültigen Antworten, sondern setzt auf inneren Dialog, Selbstkritik und ständige Erneuerung. Dieser ethische Kern schützt die Erfahrung vor Verfall – und verleiht ihr die Kraft, weiterzugehen, ohne ihre Seele zu verlieren.

Rojava als lebendiges Labor

Rojava ist keine Utopie und kein abgeschlossenes Modell – es ist ein lebendiges Labor zur Schaffung einer ethisch fundierten Gesellschaft durch reale Menschen mit Wut und Hoffnung.

Es ist ein kulturelles und ethisches Projekt, das das Verhältnis zwischen Macht und Gesellschaft, zwischen Individuum und Kollektiv neu denkt. Echter Wandel beginnt im ethischen Fundament – und darf dort nicht kompromittiert werden.

Die Rojava-Erfahrung ist nicht nur für die Kurdinnen und Kurden bedeutend, sondern für die gesamte Menschheit. Sie zeigt: Gesellschaftliche Alternativen sind keine Fantasie – sie können real werden.

Abdullah Öcalan betont: „Die Zukunft der Menschheit liegt nicht in den Händen der Staaten, sondern in den Händen freier Gesellschaften, die sich selbst organisiert haben und auf kollektiver Teilhabe basieren.“

Die Rojava-Revolution ist ein Ausdruck dieser Zukunft – sie zeigt, wie sich eine Gesellschaft aus der Umklammerung von Staat, Kapitalismus und Patriarchat befreien und auf der Grundlage von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit leben kann.

Die Autorin Newroz Ristem ist Aktivistin aus Rojava

 

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