Eziden: Abschlusserklärung der Şengal-Aufklärungskonferenz
Die Teilnehmer:innen der Aufklärungskonferenz in Şengal bezeichnen Abdullah Öcalans Friedensaufruf als Antwort auf den Völkermord an den Ezid:innen und kündigen eine aktive Beteiligung am Aufbau eines freien, pluralen Gesellschaftsmodells an.
Die Akademie für Sozialwissenschaften von Şengal hat die Abschlusserklärung ihrer zweitägigen Aufklärungskonferenz vorgestellt. Im Zentrum der Konferenz, an der etwa 150 Delegierte aus Şengal und anderen Regionen teilnahmen, stand die gesellschaftliche Erneuerung der ezidischen Gemeinschaft – inspiriert durch die Ideen und den Friedensaufruf des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan.
Ferman-Politik ist nicht unser Schicksal
In der Erklärung heißt es: „Als Gemeinschaft der Ezidinnen und Eziden sind wir seit Jahrtausenden systematischer Verfolgung ausgesetzt. Doch heute ist die Zeit gekommen, den Kopf zu heben.“ Mit Blick auf den bevorstehenden elften Jahrestag des IS-Überfalls vom 3. August 2014 betonte die Konferenz die Notwendigkeit, gesellschaftliche Organisation und Selbstschutz zu stärken, um das eigene Überleben zu sichern.
Die Teilnehmer:innen sehen ihre Bewegung an einem Wendepunkt. „Der Appell Abdullah Öcalans im Vorfeld des Genozids vom 2014, Şengal und das ezidische Volk zu verteidigen, markierte den Beginn eines neuen Abschnitts unserer Geschichte“, so die Erklärung. Inzwischen habe sich die Gemeinschaft militärisch, politisch, gesellschaftlich und organisatorisch selbst aufgebaut.

Abdullah Öcalans Botschaft als Grundlage
Der am 27. Februar veröffentlichte Aufruf Öcalans zu Frieden und demokratischer Gesellschaft wurde von den Teilnehmer:innen als „Beginn einer ezidischen Renaissance“ verstanden und bildete die Grundlage der Konferenz. Die Beteiligung verschiedenster religiöser und ethnischer Gruppen – darunter auch Zoroastrier:innen, Kakai, Sunnit:innen, Schiit:innenen und Araber:innen – wurde als gelebter Ausdruck von gesellschaftlicher Vielfalt und demokratischer Einheit gewertet. Auch zahlreiche Intellektuelle, Autor:innen und Akademiker:innen beteiligten sich online.
Gesellschaftlicher Wandel mit Wissenschaft und Jineolojî
Die Konferenz betonte, dass die ezidische Gemeinschaft vor einer Phase tiefgreifender Veränderungen stehe. „Traditionelle Methoden reichen nicht mehr aus“, hieß es. Eine neue Gesellschaft müsse auf wissenschaftlicher Grundlage entstehen – insbesondere durch die Stärkung der Sozialwissenschaften und der von Abdullah Öcalan entwickelten Jineolojî, der Wissenschaft der Frau.
Frauen, so die Erklärung, seien das Rückgrat jeder Gesellschaft. „Die Realität der Frau ist nicht nur biologisch, sondern schöpferisch. Ohne sie gibt es kein Leben.“ Der zunehmende Angriff auf Frauen sei ein Angriff auf das Leben selbst. Deshalb müsse jede gesellschaftliche Erneuerung auf der Freiheit der Frau basieren.

Êzdiyatî-Philosophie als geistige Grundlage
Die Konferenz forderte eine umfassende Wiederaneignung der ezidischen Lebensphilosophie – Êzdiyatî – die als Ausdruck von Weisheit und Naturverbundenheit verstanden wird. Diese Philosophie sei nicht in starre Dogmen zu fassen, sondern müsse über Kultur, Geschichte und Spiritualität neu entdeckt werden. Sie biete dem von Entwurzelung bedrohten Volk eine geistige Rückbindung. Folklore, Musik, orale Überlieferungen und Erzähltraditionen seien dabei zentrale Bestandteile kultureller Resilienz.
Rückkehr nach Şengal als Ausdruck von Existenz und Widerstand
Ein zentrales Thema war die Rückkehr in die Heimat: „Şengal ist das Zentrum ezidischer Existenz. Ohne Rückkehr verlieren wir unsere Wurzeln.“ Die massive Migration, vor allem nach Europa, führe zur Entfremdung von Kultur und Herkunft. Heimat dürfe nicht nur militärisch, sondern müsse gesellschaftlich und ökologisch verteidigt werden.
Jugend als Trägerin des Wandels
Die Konferenz hob die zentrale Rolle der Jugend für Erneuerung, Bildung und Widerstand hervor. Junge Menschen seien nicht die Zukunft, sondern das tragende Element der Gegenwart. Frühe Verheiratungen, Bildungsdefizite und Auswanderung seien Gefahren für das Fortbestehen der Gemeinschaft. Es brauche Wissen, Geduld und Engagement, um Lösungen zu entwickeln.

Demokratische Nation als Leitidee
Die Konferenz endete mit der Feststellung, dass der gesamte Verlauf von Abdullah Öcalans Paradigma einer demokratischen Nation geprägt gewesen sei. Die breite Beteiligung verschiedener Bevölkerungsgruppen zeige, dass diese Idee praktische Umsetzung und gesellschaftliche Akzeptanz finde. Die jüngsten Massaker an der drusischen Bevölkerung in Syrien wurde verurteilt – mit dem Versprechen der ezidischen Gemeinschaft, sich solidarisch zu zeigen.
Abschlusserklärung: Sieben Punkte für die Zukunft
Abschließend bekräftigte die Konferenz ihren Willen, den Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens aktiv mitzugestalten. Auf Grundlage von Öcalans Worten in dessen Botschaft an die Konferenz, sein Friedensaufruf sei eine Antwort auf den „73. Ferman“, wie die ezidische Gesellschaft den Genozid und Feminizid der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) bezeichnet, wurden folgende Maßnahmen beschlossen:
▪ Einsatz für die völkerrechtliche Anerkennung der Massaker vom 3. August 2014 als Völkermord,
▪ Umfassende Forschung zu ezidischer Geschichte, Kultur, Religion, Philosophie und Geografie,
▪ Förderung akademischer Studien aus Perspektive der Jineolojî,
▪ Zusammenarbeit von Autor:innen, Wissenschaftler:innen und Historiker:innen,
▪ Durchführung weiterer Konferenzen und Workshops in Şengal und Irak,
▪ Förderung und Dokumentation oraler Kultur, Musik und Folklore der Ezid:innen,
▪ Einsatz für die physische Freiheit Abdullah Öcalans und Verbreitung seiner demokratischen Ideen im Irak auf Basis interreligiöser und ethnischer Zusammenarbeit.
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