Rolle der Türkei in Nordsyrien : Die Furcht vor dem Fall Idlibs

Frankfurter Allgemeine Zeitung.Von Rainer Hermann, Ankara.

Aktualisiert am 13.06.2021.

Im Norden Syriens herrscht die Türkei über vier Gebiete mit einer Bevölkerung von vier Millionen Menschen. Neue Flüchtlingsströme, etwa aus Idlib, sollen vor allem dorthin gelenkt werden. Einen Monat vor der Abstimmung des UN-Sicherheitsrats über die Fortsetzung der humanitären Hilfe für Nordsyrien hat die syrische Armee, unterstützt durch russische Kampfflugzeuge, die Rebellenprovinz Idlib angegriffen. Bei der schwersten Verletzung des seit März 2020 geltenden Waffenstillstands wurden nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mindestens 19 Menschen getötet, 25 weitere wurden verletzt. Unter den Opfern sollen laut Augenzeugen auch Kinder sein. 

 In Idlib leben 2,6 Millionen Menschen, von denen jeder Zweite aus anderen Teilen Syriens geflohen ist. Sie werden von UN-Hilfsorganisationen über den Grenzübergang Bab al-Hawa nahe der türkischen Grenzstadt Reyhanli versorgt. Die Resolution des UN-Sicherheitsrats, die diese Hilfslieferungen ermöglicht, läuft jedoch am 10. Juli aus. Russland will sie ersatzlos auslaufen lassen. Bab al-Hawa ist der letzte der ursprünglich vielen Grenzübergänge, über die Hilfslieferungen in Gebiete im Norden Syriens gebracht worden sind, die nicht vom syrischen Regime kontrolliert werden. Drei wurden bereits auf Betreiben Russlands geschlossen. 

3,7 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei

Sollte Russland der Verlängerung der Resolution nicht zustimmen, drohe eine humanitäre Katastrophe, warnt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Jeden Tag passieren mehrere Hundert Lastwagen den Grenzübergang Bab al-Hawa. Das syrische Regime dringt darauf, dass die Versorgung ausschließlich über Damaskus und den syrischen Roten Halbmond erfolgt. Befürchtet wird, dass Hilfsgüter ihre Adressaten nicht erreichen. Zudem kann es dann zu Übergriffen gegen die Präsenz des Regimes kommen, die ein Vorwand für die Eroberung der Provinz werden könnten. Dabei käme es zu einem militärischen Konflikt mit mehr als 10.000 türkischen Soldaten, die in rund zwanzig sogenannten Beobachtungsposten die Rebellenprovinz verteidigen. 

Die letzte syrische Offensive gegen Idlib vom Januar bis März 2020 hatte 1,4 Millionen Menschen aus dem Süden der Provinz vertrieben. Von ihnen erreichte etwa eine Million die Zeltstädte an dem Grenzwall zur Türkei. 400.000 Menschen brachten sich in der benachbarten Provinz Afrin in Sicherheit, die die Türkei seit Anfang 2018 besetzt hält. Die türkische Regierung gibt zu verstehen, dass sie, um einen wachsenden Druck entlang der türkischen Grenze zu vermeiden, neue Flüchtlingsströme in die Gebiete lenken würde, die sie im Norden Syriens kontrolliert. In der Türkei leben bereits 3,7 Millionen syrische Flüchtlinge, und die Zahl wächst jedes Jahr um 100.000. 

 Im Norden Syriens herrscht die Türkei über vier Gebiete mit sieben Prozent der Fläche Syriens, in denen vier Millionen Menschen leben. Die „Euphratschild“ genannte erste Operation in den Jahren 2016 und 2017 hatte nördlich von Aleppo die Befreiung der Region vom IS zum Ziel. 2018 folgte die Operation „Olivenzweig“ in Afrin, um die Herrschaft der YPG, einer Schwesterorganisation der PKK, zu beenden. Demselben Ziel diente Ende 2019 der Einmarsch in einen 120 Kilometer langen Grenzstreifen zwischen Tal Abyad und Ras al-Ain. 

Demographische Veränderungen 

Neben dem innenpolitisch motivierten Kampf gegen die syrische Kurdenorganisation will die türkische Führung mit den drei Operationen sichere Gegenden schaffen, in denen sie syrische Flüchtlinge ansiedeln kann. Nach Angaben der türkischen Regierung hat sie bereits 435.000 Flüchtlinge aus der Türkei nach Syrien zurückgeführt und 550.000 syrische Binnenflüchtlinge in den Regionen angesiedelt, die sie kontrolliert. 

Die EU-Mitgliedstaaten und Menschenrechtsorganisationen kritisieren die demographischen Veränderungen in den von der Türkei kontrollierten Zonen. Wo früher mehrheitlich Kurden gelebt haben, werden nun sunnitische arabische Syrer angesiedelt. Die Gouverneure der jeweils benachbarten türkischen Provinzen koordinieren die zivilen Maßnahmen in den Regionen, so die Instandsetzung der Infrastruktur und die staatlichen Dienstleistungen. Türkische Beamte übernehmen vor Ort Aufgaben, die türkische Lira ist das Zahlungsmittel, die lokale Wirtschaft wird in die türkische integriert. Flüchtlinge aus Idlib würden zunächst in der benachbarten Provinz Afrin Sicherheit finden. 2011 waren dort 90 Prozent der 200.000 Einwohner Kurden. Vor dem türkischen Einmarsch 2018 stellten die Kurden 80 Prozent der dann 500.000 Einwohner. Die meisten Kurden flohen in kurdisch verwaltete Gebiete wie Kobane. Ihre Häuser bezogen Familien der protürkischen Söldner und arabische Binnenflüchtlinge. 

Human Rights Watch kritisierte zudem die Plünderungen kurdischen Eigentums durch die Söldner. Die amerikanische Denkfabrik Center for American Progress bezeichnet in einer umfangreichen Studie die Beweise für bewusste demographische Veränderungen und erzwungene Vertreibungen als erdrückend. Binnenvertriebene aus Idlib nahm seit Ende 2019 auch die Region des Euphratschilds auf. Die Türkei sieht sie als „sichere Zone“ und bereitet sie mit zahlreichen Maßnahmen auf die Aufnahme neuer Flüchtlingsströme vor. 

 In der dritten Region zwischen Tal Abyad und Ras al-Ain waren vor der türkischen Invasion 25 Prozent der Bewohner Kurden. Heute leben dort fast ausschließlich Araber. Die Türkei will in dieser dünn besiedelten Region langfristig eine Million Flüchtlinge ansiedeln. Für die meisten Syrer ist ein Leben in der Türkei aber weiterhin attraktiver als in den von der Türkei kontrollierten Gebieten Syriens.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kein Flug in die Türkei: Weitere Blockaden angekündigt

Der Islamische Staat ist zurück

Aleppo: Männer demonstrieren gegen Gewalt an Frauen