Das Sozialismusverständnis der neuen Epoche und der Kampf um Tierbefreiung
„Wenn wir der Ursache des Problems auf den Grund gehen, stoßen wir auf das dominante Gesellschaftssystem, das in gefährlicher Weise im Widerspruch zur Natur steht.“ Abdullah Öcalans Sozialismusverständnis fordert eine radikale Neuverortung des Menschen.
Eine präzise Definition der Natur sowie ein angemessener Umgang mit ihr sind entscheidend dafür, revolutionäre Kämpfe auf ein tragfähiges Fundament zu stellen. Revolutionen dürfen nicht ausschließlich auf die Befreiung des Menschen abzielen, sie müssen ebenso die Befreiung der Natur und der Tiere einschließen.
Wenn Tiere heute kaum mehr Lebensräume haben oder diese zunehmend schwinden, ist das eine direkte Folge der kapitalistischen Moderne und ihrer als „Industrialisierung“ definierten Angriffe. Der Mensch, der die Natur ausbeutet und neue Siedlungsräume erschließt, zerstört dabei zugleich die Lebensgrundlagen anderer Lebewesen. Staudämme, Wasserkraftwerke, Kohlekraftwerke und andere Großprojekte sind konkrete Manifestationen dieser Angriffe. Solche Anlagen dienen nicht nur der Energiegewinnung für den Menschen – sie zerstören auch das ökologische Gleichgewicht der betroffenen Regionen, führen zur Vernichtung tierischen Lebens und machen die jeweiligen Gebiete langfristig unbewohnbar. All dies geschieht unter dem Vorwand, der „Zukunft des Menschen“ zu dienen.
Maschinisierung durch industrielle Revolution: Höhepunkt der Herrschaft über Tiere
Die bislang radikalste Form der Unterwerfung von Tieren setzte mit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert ein. Mit dem Aufkommen der industriellen Produktion wurde das Bestreben des Menschen, sich die Natur vollständig untertan zu machen und nach eigenen Vorstellungen umzugestalten, zu einem zentralen Paradigma. Was daraus folgte, war nichts anderes als die systematische Erzeugung von neuen, durch das patriarchale System geschaffenen „Sklaven“. Eine dieser unterworfenen Gruppen waren die Tiere.
Durch den technischen Fortschritt wurden Tiere immer mehr zu funktionalen Objekten degradiert, zu Ressourcen, die der menschlichen Nutzung zu dienen hatten. Die Industrielle Revolution brachte nicht nur Fabriken hervor, sondern auch einen globalen Markt für tierische „Arbeit“ und Ausbeutung. Tiere wurden fortan gewaltsam eingesperrt, kollektiv gehalten und verkauft – entweder zur Nutzung in schwerer körperlicher Arbeit oder als Nahrungsmittel für den Menschen. Der patriarchale Geist leugnete dabei konsequent, dass andere Lebewesen Schmerz empfinden, atmen oder ein eigenständiges Leben führen können.
Im Zentrum dieser problematischen Haltung steht die Überzeugung, der Mensch sei von Natur aus ein fleischfressendes Wesen. Wenn wir uns daran erinnern, dass die kapitalistische Geschichtsschreibung auf einer patriarchalen Logik basiert – einer Logik, die sich im Gegensatz zum gemeinschaftlichen, kommunalen Verständnis der Frau herausbildete und dieses verdrängte –, dann wird auch deutlich, woher die Behauptung vom „fleischfressenden Menschen“ stammt. Fleisch galt insbesondere in der Zeit der sich herausbildenden Jagdkultur als Symbol von Status und Macht. Entsprechend wurde die Idee, dass der Mensch Fleisch essen „müsse“, zu einem zentralen Bestandteil patriarchaler Weltanschauung und als vermeintliche Notwendigkeit etabliert. Selbst Karl Marx, dessen Analyse in vielen Bereichen progressive Elemente enthält, vertrat in dieser Hinsicht eine problematische Haltung.
In seinem Kapital schrieb Marx über die Schafzucht: „Es ist natürlich unmöglich, ein fünfjähriges Tier vor dem Ende von fünf Jahren zu liefern. Was aber innerhalb gewisser Grenzen möglich, das ist, durch veränderte Behandlungsweise Tiere in kürzerer Zeit für ihre Bestimmung fertig zu machen. Dies wurde namentlich geleistet durch Bakewell. Früher waren englische Schafe, wie die französischen noch 1855, vor dem vierten oder fünften Jahre nicht schlachtfertig. Nach Bakewells System kann schon ein einjähriges Schaf gemästet werden und in jedem Fall ist es vor Ablauf des zweiten Jahres vollständig ausgewachsen. Durch sorgfältige Zuchtwahl reduzierte Bakewell, Pächter von Dishley Grange, das Knochenskelett der Schafe auf das zu ihrer Existenz notwendige Minimum.“ (Kapital II, MEW 24, S. 240)
An Marx’ Worten sind mehrere Aspekte hervorzuheben. Zum einen signalisiert seine Ausdrucksweise deutlich Besitzverhältnisse und suggeriert eine Form der Versklavung. Die Vorstellung, Tiere dem Menschen als Eigentum zuzuordnen, ist in diesem Zitat nicht nur implizit, sondern strukturell verankert. Besonders aufschlussreich ist seine Zustimmung zur gezielten Veränderung des natürlichen Körperbaus des Tieres: Weniger Knochen, mehr Fleisch – eine Praxis, die die utilitaristische Haltung gegenüber der Natur offenlegt. Marx billigt diese Eingriffe und befürwortet sie im Sinne eines ökonomischen Nutzens.
Der
Arzt Firat Riha kümmert sich in den Bergen Kurdistans nicht nur um
Menschen, sondern auch um Tiere. Die auf seinem Schoß sitzende Bergziege
(ku. Pezkovî) hatte Kopfwunden und Knochenbrüche infolge eines
türkischen Bombardements erlitten und war von dem Guerillakämpfer
medizinisch versorgt worden | Foto: ANF
Abdullah Öcalans Kritik an der Entfremdung von der Natur
Der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan hingegen formuliert seine Kritik an der gewaltsamen Aneignung und Umgestaltung der Natur unmissverständlich. Er benennt die Wurzeln dieser Problematik in der gesellschaftlichen Ordnung selbst, die sich zunehmend gegen die Natur richtet. In seinen Schriften betont er:
„Wenn wir der Ursache des Problems auf den Grund gehen, stoßen wir auf das dominante Gesellschaftssystem, das in gefährlicher Weise im Widerspruch zur Natur steht. Mit wachsender wissenschaftlicher Klarheit zeigt sich, dass die jahrtausendealten innergesellschaftlichen Widersprüche eng mit der Entfremdung von der natürlichen Umwelt verknüpft sind: Je stärker innere Konflikte und Kriege in einer Gesellschaft ausgeprägt waren, desto massiver geriet sie in Widerspruch zur Natur. Das heutige Leitmotiv lautet: die Natur beherrschen, ihre Ressourcen skrupellos an sich reißen und ausbeuten. Man spricht von der ‚Grausamkeit der Natur‘. Das ist schlichtweg falsch.“ (Kürt Sorununda Çözüme Doğru: Demokratik Özerklik, Weşanên Serxwebûn, S. 19)
Mit dieser Aussage stellt Öcalan die kapitalistische Moderne in einen größeren historischen Kontext: Die Entfremdung von der Natur sei keine rein wirtschaftliche oder technische Entwicklung, sondern Ausdruck eines tief verwurzelten zivilisatorischen Denkfehlers, der Herrschaft über Leben und Umwelt als Fortschritt deklariert und dabei das ökologische Gleichgewicht zerstört.
Animal Liberation Front: Ein Beispiel praktischer Selbstverteidigung
Die Animal Liberation Front (ALF) gilt als eine der wenigen Organisationen weltweit, die den Schutz von Tieren als Akt kollektiver Selbstverteidigung begreift. Gegründet wurde sie Mitte der 1970er Jahre in Großbritannien, hervorgegangen aus „Band of Mercy“, eine radikalisierte Fraktion der „Hunters Saboteurs Association“. Ihre ersten öffentlich beachteten Aktionen umfassten nächtliche Einbrüche in Versuchslabore, Tierfarmen und Pelzbetriebe, bei denen Tiere befreit und Sachschäden verursacht wurden.
Ab den 1980er Jahren breitete sich die Bewegung nach Nordamerika und anderen Ländern aus und gewann durch ihre gezielten Sabotageakte gegen Unternehmen, die Tierversuche durchführten oder von Tierausbeutung profitierten, internationale Bekanntheit. Die ALF agiert dezentral und anonym, was ihre Aktionen schwer vorhersehbar macht und den Sicherheitsbehörden eine direkte Verfolgung erschwert.
Die ALF versteht sich als Verteidigerin des Lebensrechts aller Lebewesen. Mit spektakulären, jedoch gewaltfreien Befreiungsaktionen richtete sie sich weltweit gegen industrielle Labore, in denen Tiere zu Forschungszwecken eingesetzt wurden. Dabei wurde strikt darauf geachtet, weder Menschen noch andere Lebewesen zu verletzen. Die befreiten Tiere wurden nach Möglichkeit in ihre natürlichen Lebensräume entlassen.
Der anarchistische Tierrechtsaktivist David Barbarash, ehemaliger Sprecher der Animal Liberation Front für Nordamerika, brachte das ideologische Fundament der Bewegung im „The ALF Unmasked“-Interview wie folgt auf den Punkt:
„Ich sehe die Tierbefreiungsbewegung als Teil eines größeren Ganzen. Die Unterdrückung und Ausbeutung von Tieren geschieht nicht isoliert, sondern im Kontext anderer Unterdrückungsformen – etwa gegenüber Frauen, Minderheiten und anderen marginalisierten Gruppen. Sie ist ebenso untrennbar verbunden mit der Zerstörung unseres Planeten. Die Grausamkeiten, gegen die wir in der Tierbefreiungsbewegung kämpfen, werden von Menschen und einer Gesellschaft verursacht, die sich derselben Geisteshaltung bedienen wie jene, die die Erde aus Profit- und Vergnügungssucht ausbeuten oder Machtverhältnisse aufrechterhalten wollen. Deshalb ist Tierbefreiung nur ein Teil eines viel umfassenderen Problems, das uns alle betrifft. Für die Rechte von Tieren zu kämpfen heißt auch, sich gegen alle Formen von Gewalt und Tötung zu stellen. Es geht dabei nicht nur darum, Einzelpersonen mit ihrem Verhalten zu konfrontieren, sondern vor allem die dahinterstehenden Haltungen und Ideologien zu bekämpfen, die von einer institutionalisierten Gesellschaft ständig reproduziert werden. Es ergibt keinen Sinn, für das Leben wilder Tiere zu kämpfen, wenn wir nicht auch für den Erhalt ihrer – und unserer – Lebensräume kämpfen: die natürliche Umwelt.“
Ein Freiheitsverständnis, das über den Menschen hinausgeht
Wenn Abdullah Öcalan von einer „Revolution der Liebe“ spricht, meint er damit nicht bloß die zwischenmenschliche Zuneigung. Vielmehr bezieht er sich auf eine umfassende Befreiung des Individuums von den durch die kapitalistische Moderne auferlegten Persönlichkeitsmustern. Die kurdische Befreiungsbewegung versteht ihre Mission daher als Kampf für eine Welt, in der Freiheit und Gleichwertigkeit nicht nur für Menschen, sondern für alle Lebewesen gelten.
In seinem Werk „Perspektiven der Freiheit“ formuliert Öcalan:
„Nicht egoistisch in Bezug auf Freiheit zu sein, nicht in einen menschenzentrierten Reduktionismus zu verfallen – das ist meiner Meinung nach entscheidend. Kann man das verzweifelte Streben nach Freiheit eines Tieres im Käfig einfach ignorieren? Wenn der Gesang der Nachtigall selbst die gewaltigste Sinfonie übertrifft, wie könnte man diese Realität anders als mit dem Begriff der Freiheit beschreiben? Und noch weitergehend: Regen nicht die Klänge und Farben des gesamten Universums zum Nachdenken über Freiheit an?“
Die Befreiung der Tiere sollte demnach nicht als Nebenforderung, sondern als ein grundlegender Bestandteil der sozialistischen Bewegung verstanden werden. Sozialismus ist nicht nur ein Projekt zur Befreiung des Menschen, sondern zielt auf eine gerechtere und lebenswertere Welt für alle Wesen. In diesem Sinne braucht es ein konkretes Programm und eine konsequente Strategie, um den zerstörerischen Angriffen der kapitalistischen Moderne, insbesondere durch den Industrialisierungswahn, wirksam entgegenzutreten. Nur so kann eine Welt entstehen, in der Menschen, Tiere und ökologische Systeme in gegenseitiger Verantwortung und Anerkennung existieren.
Der Freiheitsbegriff, wie er durch die Tierbefreiung formuliert wird, ist damit kein randständiges Anliegen, sondern muss als tragende Säule eines neuen sozialistischen Verständnisses gelten. Denn bei der Betrachtung der historischen Entwicklung der sozialistischen Ideologie zeigt sich, dass viele ihrer Grundannahmen noch immer unter dem Einfluss kapitalistisch geprägter Denkweisen stehen. Oftmals wurden nicht alternative Konzepte entwickelt, sondern bestehende Muster übernommen – etwa die Vorstellung, der Mensch sei von Natur aus Fleischesser.
Gerade hier beginnt die notwendige Kritik. Solange man den Menschen als fleischfressendes Wesen definiert, reproduziert man automatisch das Bedürfnis, Tiere zu unterwerfen und auszubeuten. Wer glaubt, ohne Fleisch nicht leben zu können, akzeptiert zwangsläufig auch ein System, das auf der Tötung von Tieren und ihrer funktionalen Verwertung basiert. Genau darin besteht die Realität der heutigen Welt: ein globales Ausbeutungssystem, das auf dem Mythos vom fleischfressenden Menschen aufbaut und ihn zur ideologischen Rechtfertigung von Tiermord und Tierausbeutung instrumentalisiert.

Öcalans Verständnis von Natur, Tier und Macht
Das blutige Ritual der Jagd ist Ausdruck einer patriarchalen Kultur, die bis in die Frühphase der hierarchischen Gesellschaftsbildung zurückreicht. Der Jäger – der Mann, der tötet – gilt in dieser Logik als Symbol von Macht und Überlegenheit. Um diese Macht zu erhalten, muss er weiter töten. In diesem Kontext betrachtet Abdullah Öcalan den Fleischkonsum als Abweichung von der eigentlichen menschlichen Natur, und lehnt die Vorstellung, der Mensch sei ein Fleischfresser, klar ab.
In seinem Manifest für Frieden und eine demokratische Gesellschaft analysiert Öcalan die Herausbildung männlicher Dominanz und die Rolle der Jagd darin wie folgt:
„Die Frau sammelt Pflanzen, der Mann geht auf die Jagd, tötet Lebewesen. Krieg bedeutet, ein Lebewesen zu töten. Ein Tier zu töten ist Mord. Während die Frau rund um Samen und Pflanzen eine soziale Ordnung aufbaut, geht der Mann gestärkt daraus hervor, dass er andere Lebewesen tötet. Das eine führte zur heutigen mörderischen Gesellschaft, das andere versucht noch immer, das Soziale aufrechtzuerhalten. (...) Die Gesellschaft, die auf Krieg und Beute basiert, ist eine vom Mann dominierte Gesellschaft. Ihr Ziel ist Mehrwert. Marx führt das auf die Klassenbildung zurück, doch das ist gar nicht nötig. (...) Der Mann jagt nicht nur Tiere, er eignet sich auch die Nahrung an, die die Frau gesammelt hat. Und ebenso eignet er sich die Frau selbst an. So beginnt die Geschichte.“
Eine zutreffende Definition der Natur ist auch Voraussetzung für ein zeitgemäßes Verständnis des Sozialismus. Die Erde ist kein Raum, der allein für den Menschen geschaffen wurde. Sie ist ein komplexes Gefüge ökologischer Beziehungen, in dem Millionen Arten koexistieren – der Mensch eingeschlossen. Ein anthropozentrischer Blick auf die Welt bedeutet, sich von der kapitalistischen Geschichtsauffassung nicht zu lösen und weiterhin einem Denken zu folgen, das durch eine tief verwurzelte Form des Speziesismus – letztlich ein biologischer Faschismus – geprägt ist.
Ein sozialistischer Mensch darf kein Speziesist sein. Jede Ideologie, die sich auf die Überlegenheit der eigenen Art gründet, ist durch und durch vom Geist des Faschismus durchdrungen. Die Alternative dazu ist ein ökologischer Ansatz, wie ihn Öcalan mit dem Konzept des „Sozialismus der Demokratischen Nation“ beschreibt. Der kurdische Vordenker erkennt in der Aussage, „Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Niederlage der Frau“, nicht nur die systematische Ausgrenzung von Frauen, sondern auch den Verlust einer gemeinschaftlich-ökologischen Lebensweise, die von Frauen organisiert wurde. Diese ursprünglich von Frauen getragene Gesellschaftsform wurde durch die patriarchale Jagdkultur zerstört, welche Stärke durch Gewalt und Unterwerfung definierte. Damit wurde nicht nur die Frau marginalisiert, sondern auch das von ihr geprägte ökologische Denken – ein Denken, das ein Zusammenleben aller Lebewesen vorsah.
Öcalan beschreibt diese historische Entwicklung als Entstehung einer „Jägerkultur“, in der der Mann seine Dominanz über Tiere zunächst außerhalb der Gemeinschaft ausübte, diese Form der Machtausübung aber später auch auf die Frau übertrug. Weil er innerhalb des Clans oder der Gesellschaft keine direkte Kontrolle ausüben konnte, näherte er sich der Frau letztlich mit derselben Haltung wie dem Tier: als Objekt der Beherrschung.
Öcalan analysiert die männliche Herrschaftsstruktur in aller Schärfe und stellt fest:
„Es stellt sich unweigerlich die Frage: Warum eine derartige Versklavung? Die Antwort hängt zweifellos mit dem Phänomen der Macht zusammen. Die Natur der Herrschaft bedingt die Sklaverei. Wenn das Herrschaftssystem in der Hand des Mannes ist, muss nicht nur ein Teil der Menschheit, sondern vielmehr ein ganzes Geschlecht komplett entsprechend dieser Macht geformt werden.“ (Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, Mezopotamien-Verlag, S. 190).
Aus diesem Grund betont Öcalan immer wieder die Bedeutung eines demokratischen und ökologischen Gesellschaftsmodells. In seinen Augen ist ein ökologisch fundierter Sozialismus kein Randthema, sondern der zentrale Ausdruck eines neuen sozialistischen Verständnisses im Zeitalter globaler Krisen. Der Weg heraus aus der Mechanisierung des Lebens und den Zerstörungen, die durch den Kapitalismus verursacht wurden, führt über eine radikale Umorientierung: hin zu einer ökologischen Gesellschaft. Im Zentrum dieses Verständnisses steht die Idee des Miteinanders aller Lebewesen. Die Zukunft liegt in einem solidarischen Leben, das nicht auf Ausbeutung, sondern auf Gegenseitigkeit und Respekt vor allen Lebensformen basiert.
Industrialisierung als Quelle von Krise und die Notwendigkeit des ökologischen Sozialismus
Im Manifest für Frieden und eine demokratische Gesellschaft definiert Abdullah Öcalan den Begriff des Industrialismus als ein zentrales Element des kapitalistischen Systems:
„Industrialisierung ist ein auf Wissenschaft und Technik basierendes Produktionssystem, das gleichzeitig die gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Beziehungen neu und auf Ausbeutung gründend organisiert. Die kapitalistische Wirtschaft und der Industrialismus haben sowohl die Gesellschaft als auch die physische Natur im Streben nach maximalem Profit und Ausbeutung massiv zerstört. Dies wiederum bedeutet sozialen Zusammenbruch und ökologische Krise.“
Die Alternative zu dieser kapitalistisch-industriellen Zivilisationsform liegt in einem neuen Paradigma: dem ökologisch fundierten Sozialismus. Nur durch die Entwicklung eines konsequent ökologischen Widerstandes gegen Industrialisierung und Kapitalismus lassen sich neue, lebensfreundliche Modelle gesellschaftlichen Zusammenlebens entwickeln.
Ein solcher ökologisch begründeter Sozialismus lehnt den Speziesismus – die ideologische Überhöhung der eigenen Art – grundlegend ab. Er rückt den Menschen nicht mehr in den Mittelpunkt des Universums, sondern stellt ihn auf eine Ebene mit allen anderen Lebewesen. Statt einer hierarchischen Ordnung anerkennt er, dass jede Spezies über ein Recht auf Mitbestimmung, auf Teilhabe und auf ein gleichwertiges Leben auf diesem Planeten verfügt.
Die „dritte Natur“ – Öcalans Vision einer neuen Zivilisation
Der von Abdullah Öcalan geprägte Begriff der „dritten Natur“ beschreibt eine Phase, in der sich die Menschheit aktiv gegen die Zerstörung des Planeten und die Auslöschung von Leben stellt. Es geht um eine bewusste Rückkehr zu einem harmonischen Verhältnis zwischen Mensch und Natur – durch die Überwindung jener Denk- und Produktionsweisen, welche die ökologische Krise verursacht haben. Ein neues Verständnis von Sozialismus wird dabei unerlässlich. Es muss darauf abzielen, die durch die kapitalistische Moderne verursachten Schäden zu beheben und eine echte Versöhnung mit der Natur zu ermöglichen. Öcalan schreibt:
„Die dritte Natur meint den Zustand, in dem die herrschaftlichen Denk- und Produktionsformen, die zur Entfremdung von der Natur und zur ökologischen Krise geführt haben, überwunden werden. Es geht darum, auf Grundlage eines neuen Gesellschaftsvertrags im Einklang mit der Natur zu leben, die Produktions- und Konsumkultur zu ökologisieren. Eine gemeinschaftliche Produktion, die auf Umweltbewusstsein basiert und eine angemessene Nutzung von Industrieformen beinhaltet, ist dabei unverzichtbar.“
Im Gegensatz zu Marx, der den Industrialisierungsprozess historisch positiv bewertete, positioniert sich die kurdische Befreiungsbewegung klar gegen jede Form naturzerstörender „Fortschrittslogik“. Sie stellt den Menschen nicht über andere Lebensformen und lehnt jedes System ab, das andere Arten der menschlichen Verwertungslogik unterordnet.
Im Manifest für eine demokratische Gesellschaft weist Öcalan darauf hin:
„Klassenanalysen, wirtschaftliche Rezepte, politische Maßnahmen sowie alle Akkumulationen von Macht und Staatlichkeit haben sich als unzureichend erwiesen, um ökologische und gesellschaftliche Zerstörung aufzuhalten – ja, es ist nahezu erwiesen, dass sie dazu beigetragen haben. Daraus folgt, dass das Problem viel grundsätzlicher angegangen werden muss.“
Die Lösung kann nicht in der bloßen Wiederholung vergangener Ansätze bestehen. Sie liegt in der Entwicklung eines neuen, ökologischen Sozialismus. Öcalan betont die Gleichwertigkeit des Menschen mit allen anderen Lebensformen:
„Selbst wenn die menschliche Gesellschaft im Vergleich zu allen anderen Lebewesen als die höchste Natur bezüglich der Intelligenz und Flexibilität anerkannt wird, ist sie in letzter Instanz auch ein lebendiges Wesen. Ihre Heimat ist die Erde, das heißt, sie ist das Produkt eines empfindlichen klimatischen Umfelds und der Evolution der Pflanzen- und Tierwelt.“ (Soziologie der Freiheit, Unrast-Verlag, S. 147)
Daher ist der Mensch untrennbar Teil der Natur – und ihr gegenüber verantwortlich. Diese Verantwortung drängt angesichts wachsender ökologischer Zerstörung zunehmend zur Handlung. Öcalan warnt:
„Die Meeres- und Flussverschmutzung und die zunehmende Wüstenbildung stehen bereits heute an der Schwelle zur Katastrophe. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass nicht die Störung der natürlichen Ordnung, sondern einige in Netzwerken organisierte Gruppen den Untergang der Gesellschaft herbeiführen werden. Selbstverständlich wird auch die Natur Antworten auf diese Entwicklung haben, denn auch sie ist lebendig und intelligent. Auch ihre Geduld hat Grenzen. Am richtigen Ort und zum richtigen Zeitpunkt wird sie Widerstand zu leisten wissen und dabei nicht auf die Tränen von Menschen achten, denn sie wird sie alle dafür verantwortlich machen, dass sie ihre Talente und die von der Natur geschenkten Werte verraten haben. War nicht der jüngste Tag so vorgesehen?
Ich will an dieser Stelle keine neuen Katastrophenszenarien entwerfen, sondern lediglich wie alle anderen Gesellschaftsmitglieder auch, gemäß unserer Verantwortung und unserem Verständnis von moralischen und politischen Aufgaben als unserem Daseinsgrund, entsprechend unserer Fähigkeiten das Notwendige sagen und tun.“ (Soziologie der Freiheit, Unrast-Verlag, S. 148)
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