Istanbul: „Eure Familie soll untergehen – wir wollen leben“
Trotz Verbots protestierten Tausende Frauen und LGBTIQ+ in Istanbul gegen staatliche und patriarchale Gewalt. Sie forderten Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, ein Ende der Straflosigkeit und einen feministischen Frieden.
Trotz massiver Polizeiabsperrungen und Verbotsauflagen haben Tausende Frauen und LGBTIQ+-Personen am Dienstag anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen im Istanbuler Stadtteil Taksim demonstriert. Aufgerufen hatte die Frauenplattform 25. November unter dem Motto: „Ihr nennt es Familie, wir nennen es Unterdrückung – Frauen revoltieren gegen die Gewalt von Staat und Patriarchat.“
Begleitet von Sprechchören wie „Jin, Jiyan, Azadî“, „Nein zur staatlich-männlichen Gewalt“ und „Es lebe die Solidarität der Frauen“ durchbrachen Demonstrierende die Polizeiabsperrungen und zogen über die Einkaufsmeile Istiklal. Die Polizei versuchte mehrfach, den Marsch zu unterbinden, scheiterte jedoch an der Entschlossenheit der Teilnehmer:innen.
Protest gegen Gewalt, Armut, Straflosigkeit und staatliche Doppelmoral
In der anschließenden Kundgebung wurde eine scharfe Anklage gegen die strukturelle Gewalt an Frauen, gegen Straflosigkeit, Entrechtung, Armut und Kriminalisierung feministischer Politik formuliert. Melike Tahmaz, Çiğdem Atay und Hanım Rojbin Özmen erklärten in der gemeinsamen, auf Türkisch und Kurmancî verlesenen Erklärung:
„Wir sind hier, weil wir alle an dieselben Mauern stoßen – in der Familie, am Arbeitsplatz, im Gerichtssaal. Unsere Leben werden kontrolliert, unsere Rechte angegriffen, unsere Würde ignoriert. Aber wir geben nicht auf – nicht unser Leben, nicht unsere Träume, nicht unsere Kämpfe.“
Die Rede verwies auf das Ungleichgewicht staatlicher Ausgaben: Während
im neuen Haushaltsentwurf 2026 über zwei Billionen Türkische Lira für
den Verteidigungshaushalt vorgesehen seien, stünden für Frauenförderung
lediglich sechs Milliarden zur Verfügung. Zugleich würden Gesetze
vorbereitet, die Scheidung, Unterhalt, Erbschaftsrechte und
Selbstbestimmung weiter einschränken sollen. „Ihr ruft das Jahr der
Familie aus – wir sagen: Eure Familie soll untergehen. Wir wollen leben,
frei, sicher, mit Würde.“
Rojin, Gülistan, Nadira: Gewalt endet nicht mit dem Tod, sie wird vertuscht
Ein zentrales Thema waren die zahlreichen schweren Fälle von Femiziden, die von Behörden als Selbstmorde oder Unfälle dargestellt würden – darunter die Fälle Gülistan Doku, Nadira Kadirova, Hande Kader, Dina Yakut, Rabia Naz, Narin Güran und zuletzt Rojin Kabaiş. „Wir fragen: Was ist mit Gülistan? Was ist mit Nadira? Was mit Rojin? Jede vertuschte Wahrheit, jeder verschleppte Prozess, jeder freigelassene Täter ist ein Vorbote der nächsten Tat“, sagten die Aktivistinnen. „Dieses System schützt nicht Frauen – es schützt Täter.“
Feministische Perspektive auf Frieden
Die Rede nahm auch klar Bezug auf regionale wie internationale Konflikte, von Kurdistan über Palästina bis Sudan, und verknüpfte den feministischen Kampf mit dem Einsatz für eine dauerhafte, gerechte Friedensordnung. „Frieden bedeutet nicht nur, dass Waffen schweigen. Frieden heißt: Wahrheit ans Licht bringen. Täter bestrafen. Das Schicksal von Verschwundenen aufklären. Oppositionelle freilassen. Die Muttersprache frei sprechen dürfen. Und ein Ende der Zwangsverwaltung in Kurdistan.“
Frauen und LGBTIQ+-Menschen seien in allen Kriegen und autoritären Systemen die ersten Zielscheiben – ob in der Türkei, in Syrien oder in Palästina. Umso klarer der Anspruch: „Für unsere Leben, unsere Freiheit, unsere Gleichheit, für jede einzelne von uns – wir sind hier. Und wir machen weiter. Eure Familie soll untergehen – wir wollen leben.“
Repression gegen 25.-November-Proteste
Die Demonstration fand unter strikten Sicherheitsauflagen statt. Wie bereits in den Vorjahren hatte das Istanbuler Gouverneursamt den Protest untersagt, zentrale Straßen blockieren lassen und massive Polizeipräsenz aufgeboten. Trotz alledem versammelten sich mehrere tausend Menschen, darunter viele junge Frauen und LGBTIQ+-Aktivist:innen.
Besondere Kritik galt auch der Kriminalisierung der Veranstaltung des Vorjahres: Gegen 168 Frauen und LGBTIQ+, die 2024 an der Istanbuler 25.-November-Demo teilgenommen hatten, wurde kürzlich Anklage erhoben. Die Gerichtsverhandlungen beginnen im Januar.
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