Nagihan wurde ermordet, weil sie „gefährlich“ war
Vor drei Jahren ist die Journalistin und Jineolojî-Forscherin Nagihan Akarsel in Südkurdistan auf offener Straße ermordet worden. Ihr Leben und Wirken berührte eine Vielzahl von Menschen, vor allem Frauen, und hallt bis heute wider – ein Nachruf.
Seit dem Auftragsmord des türkischen Geheimdienstes an Nagihan Akarsel sind drei Jahre vergangen – doch niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. Nagihan bleibt nicht nur eine gefallene Genossin, sondern eine Frau, die eine ganze Bewegung geprägt hat.
Geboren 1977 im kurdischen Dorf Xalîka Jêr (auch Xelîkan, tr. Gölyazı), einem Ort in der zentranatolischen Provinz Konya, der von zwangsdeportierten Kurd:innen bewohnt wird, wuchs Nagihan in einer Gemeinschaft auf, die seit Jahrhunderten Vertreibung, Assimilation und Unterdrückung widerstand. Diese Wurzeln erklären nicht nur ihre Herkunft, sondern auch den unermüdlichen, kämpferischen Geist, der ihr Leben prägte.
Mitgestalterin einer neuen Gesellschaft
Ihr Weg war nie individuell, er war Teil einer kollektiven Geschichte, eines historischen Kampfes, in dem Kurdinnen nicht nur überleben, sondern eine neue Gesellschaft gestalten. Nach dem Abitur in Konya studierte sie Journalismus in Ankara und engagierte sich in der kurdischen Jugendbewegung. Aufgrund dieses Engagements saß sie zwischen 2001 und 2007 im Gefängnis.

Als sie freikam, arbeitete sie eine Weile als Redakteurin und Autorin für die Nachrichtenagentur Dicle (DIHA). Später gehörte sie zu den Mitbegründerinnen der ersten Frauennachrichtenagentur JINHA und trug so wesentlich zur Entwicklung des Frauenjournalismus bei. In dieser Zeit begann sie auch, sich näher mit der Jineolojî auseinanderzusetzen.
„Nagihan Akarsel war das Ziel des Männerstaates“
Nagihan war ein Teil der Jineolojî, jener revolutionären Wissenschaft, die Frauen im Nahen Osten – und besonders kurdische Frauen – ermutigt, ihre eigene Geschichte, ihre eigene Kraft und ihre eigene Wahrheit zurückzuerobern. Sie hinterließ mehr als Worte: Sie hinterließ Spuren, Fragen, neue Räume des Denkens und des Handelns. In Rojava förderte sie die Bildungsarbeit im Bereich der Jineolojî und recherchierte zur Geschichte von Frauen in Efrîn. In Şengal betrieb sie Feldforschung zur Situation von Frauen nach dem vom „Islamischen Staat“ (IS) begangenen Genozid und Feminizid.
„Sie war eine Widerstandskämpferin. Deshalb wurde sie zum Ziel des Männerstaates“, erinnerte ihre Weggefährtin Şêrîn Hesen in einem Interview. „Nagihan Akarsel war das Ziel des Männerstaates. Sie kannte die Geschichte der Frauen, sie war widerständig und prägend. Uns bleibt, ihr Erbe zu bewahren und ihre Arbeit fortzuführen. Sie hat große Opfer für die Jineolojî gebracht. Ihr gerecht zu werden heißt, ihren Weg weiterzugehen und ihre Projekte zu vergrößern.“
Nagihan Akarsel stellte die Frau ins Zentrum
Nagihan verkörperte jene Haltung, die Angst in den Palästen der Macht verbreitet: die Beharrlichkeit, Wahrheit zu suchen, Geschichte neu zu schreiben, das Leben von Frauen ins Zentrum zu stellen. Sie zeigte, dass Wissenschaft nicht abstrakt sein muss, sondern ein Werkzeug des Widerstands sein kann. In ihren Jineolojî-Kursen sprach sie nicht nur über Frauen und Natur – sie öffnete Wege zurück zum eigenen Selbst, zur eigenen Geschichte, zu einer kollektiven Kraft. Wer sie traf, erinnert ihre Energie, ihre Wärme, ihre Fähigkeit, aus Fragen Widerstand zu formen. Zuletzt arbeitete sie mit Frauen aus Südkurdistan im Forschungszentrum für Jineolojî. Eines ihrer laufenden Projekte war die Einrichtung einer kurdischen Frauenbibliothek.
Nagihan war für das System gefährlich
Nagihan wurde ermordet, weil sie „gefährlich“ war – gefährlich für ein System, das auf Patriarchat, Militarismus und Kolonialismus baut. Sie wurde von elf Kugeln getroffen – aus der Waffe eines Attentäters, den der türkische Geheimdienst MIT anheuerte, um sie zu töten. Doch das, was sie erschaffen hat, lässt sich nicht mit Kugeln töten. Ihr Andenken lebt in den Frauen weiter, die heute in Kurdistan, in Rojava, in Şengal und darüber hinaus weiterkämpfen.
Nagihan hat uns gelehrt: Jin, Jiyan, Azadî ist mehr als eine Parole – es ist eine Praxis, eine Wissenschaft, eine Revolution.
Ihr Vermächtnis verpflichtet uns, nicht in Trauer stehen zu bleiben, sondern ihren Weg weiterzugehen. Nagihan Akarsel ist unsterblich – unsterblich im Kampf der Frauen, unsterblich in der Jineolojî.
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