Karasu: Die ökologische Dimension unseres Paradigmas
Neben einer ausführlichen Bewertung der aktuellen Lage äußert sich Mustafa Karasu (KCK) auch zum ökologischen Kampf. Die Verbindung zwischen der ökologischen und der Geschlechterfrage sieht er als grundlegend wichtig an.
Mustafa Karasu hat sich als Exekutivratsmitglied der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) in einem ausführlichen Interview zu aktuellen Fragen bezüglich der jüngsten Entwicklungen rund um die kurdische Frage, der Aufgaben der Kommission und der innen- sowie außenpolitischen Auswirkungen und Notwendigkeiten.
Karasu betonte, dass die Demokratisierung der Türkei und darin inbegriffen die Lösung der kurdischen Frage, das Ziel der Kommission sein müsse. Das ausschließliche Ziel einer „terrorfreien Türkei“ würde keinerlei Probleme des Landes lösen.
Außerdem widmete er sich intensiv dem ökologischen Kampf und dem voranschreitenden Ökozid. Dieser stelle ein absolut existenzielles Problem der gesamten Menschheit dar und müsse demnach eine entsprechende Annäherung erfahren. Der bisherige Kampf greife in diesem Punkt zu kurz, insbesondere sei die Verschränkung mit der Frauenbefreiung notwendig.
Abdullah Öcalan und das Recht auf Hoffnung
Karasu betonte erneut, dass die Verwirklichung des Rechts auf Hoffnung für Abdullah Öcalan ein entscheidender Punkt für die Freiheitsbewegung Kurdistans sei. Demgegenüber zeige die Regierung zwar eine negative Annäherung, angesichts der juristischen Lage sei diese aber quasi bedeutungslos.
Devlet Bahçeli habe öffentlich Zusagen gemacht. In Anbetracht der Schritte der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bezüglich ihrer Auflösung und Entwaffnung, sei es ein gravierendes Versäumnis, dass bisher keine Schritte erfolgt seien, damit Öcalan sich frei und sicher an dem Prozess beteiligen kann. Dieses Versäumnis erzeuge laut Karasu ernsthafte Probleme, denn andernfalls hätte Abdullah Öcalan beispielsweise seine Vorschläge der (kurdischen) Öffentlichkeit wesentlich akkurater erklären können.
Kommission muss die richtigen Ziele verfolgen
Bezüglich der mittlerweile eingerichteten parlamentarischen Kommission äußerte Karasu eine gewisse Skepsis. Zwar sei diese ein wichtiger Schritt, allerdings müsste sie gesetzlich verankert und ihre Ziele klar und eindeutig formuliert sein. Der Fokus müsse klar auf die Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage gerichtet sein und über ein dementsprechendes Programm verfügen: „Eine Kommission kann nicht einfach dadurch eingerichtet werden, dass man jeden Tag ‚Türkei ohne Terrorismus‘ sagt.“
Der erste Schritt, um eine wirklich Grundlage zu haben, um effektiv arbeiten zu können, sei ein Treffen der Kommission mit Abdullah Öcalan, da dieser entscheidende Impulse und Analysen beizutragen habe und bereits ein wichtiger Akteur in dem Prozess ist. Außerdem müsse die Kommission über entscheidende Kompetenzen verfügen.
Es sei allerdings ein Zeitraum von zwei bis drei Monaten für die Arbeit benannt worden, was Karasu fragen lässt: „Wofür soll der genügen? Es scheint, dass das Einzige, was sie von der Kommission erwarten, darin besteht, die Niederlegung der Waffen der Guerilla und deren Rückzug aus den Bergen zu organisieren. Das ist ein Problem. Da ist die kurdische Frage und da ist die Frage der Demokratisierung in der Türkei. Was soll diese Kommission bewirken, wenn sie sich nicht mit diesen Fragen befasst? Wir sprechen hier von einem jahrhundertealten Problem.“ Für die Lösung genau dieser Probleme gehe die PKK folgenreiche und große Schritte.
Unterstützung des Prozesses
Internationalistische Verbündete der Freiheitsbewegung Kurdistans bemühten sich redlich, den aktuellen Prozess zu unterstützen und seinen Erfolg zu sichern. Diese Bemühungen sollten laut Karasu noch weiter entwickelt werden, neben Treffen und Demonstrationen sowie Kundgebungen, sollten auch die internationalistischen Verbündeten versuchen, alle Kreise der kurdischen Gesellschaft zu erreichen. Es ginge darum, wirklich alle zu informieren und zu involvieren.
Gleichzeitig liege die hauptsächliche Verantwortung beim kurdischen Volk und den demokratischen Kräften in der Türkei. Karasu würdigte die zahlreichen Treffen und Versammlungen, die zur Vermittlung und Diskussion der aktuellen Entwicklungen veranstaltet werden. Gleichzeitig müssten diese wesentlich weiter über die eigenen Kreise, Städte und Stämme hinausgehen.
Die Wurzel des „Demokratieproblems“
Karasu betonte, dass alle informiert werden müssten, denn alle könnten profitieren: „Die Ursache aller Probleme, mit denen die Türkei derzeit konfrontiert ist – Probleme der Demokratie, der Arbeit, der Arbeitslosigkeit und der Wirtschaft – ist der Mangel an Demokratie aufgrund der ungelösten kurdischen Frage. Diejenigen, die sagen, ‚es gibt keine Demokratie‘, müssen dieses Gesamtbild sehen. Ohne eine Lösung der kurdischen Frage und die Bewältigung des grundlegenden Problems wird es keine Demokratie in der Türkei geben. Diejenigen, die keine Lösung für dieses Problem wollen, streben nicht wirklich nach Demokratie.“
Unterdrückung der Opposition
Der geschlossene Wille für Frieden und Demokratie sei somit ein wichtiger Teil des aktuellen Prozesses. Angesichts dessen betonte Karasu, dass demgegenüber die Unterdrückung der Opposition, anderer Glaubensgruppen und der Kurd:innen ist ein jahrhundertealtes Problem der Türkei sei, in der keine Demokratie herrsche. „Es gibt in der Türkei eine historische und soziologische Basis für anti-demokratische Praktiken“, fasst Karasu zusammen.
In diesem Sinne könne nicht von einem neuen oder vorübergehenden Phänomen gesprochen werden. Die CHP zeige trotz der verschärften Repression, die sie aktuell trifft, weiterhin eine positive Annäherung an den Prozess der Demokratisierung. Es sei wichtig, dass sich die Opposition angesichts von Unterdrückung und Repression nicht von dem Prozess abwende.
Türkisch-kurdische Geschwisterlichkeit – und was ist mit Rojava?
Der in der Türkei stattfindende Prozess verlange einen ernsthaften Mentalitätswandel, so Karasu. Es ist vielfach die Rede von türkisch-kurdischer Geschwisterlichkeit, was für Karasu jedoch die Frage eröffnet, ob die Kurd:innen in Rojava nicht zu den Geschwistern zählten. Die türkische Regierung und der türkische Staat müssten ihre Annäherung in diesem Bezug korrigieren.
Es dürfe nicht die gleiche Herangehensweise an die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) wie zum Beispiel vor einem Jahr verfolgt werden: Vor einem Jahr habe Bahçeli am liebsten die DEM-Partei auflösen und alles gegen die Kurd:innen unternehmen wollen. Heute hingegen gehe er einen Schritt auf sie zu, unterstrich Karasu, und es läuft ein Prozess für Frieden und eine demokratische Gesellschaft, für die Demokratisierung der Türkei.
Mentalität ohne Raum für Demokratie
Hinsichtlich der Entwicklungen in Syrien selbst hielt Karasu fest, dass die neue Übergangsregierung die gleichen Fehler begehe wie das vorherige Baath-Regime: Sie wolle eine zentrale Macht und Regierung installieren. Außerdem habe sie ein grundlegendes Mentalitätsproblem und akzeptiere keine Unterschiede. Dies habe sich grausam an den Massakern an der alawitische und an der drusischen Bevölkerung gezeigt. Diese seien jedoch nicht nur ein Ausdruck fehlender Religionsfreiheit gewesen, sondern ein Zeichen dafür, dass in Dschaulanis (alias Ahmed al-Scharaa) Mentalität kein Raum für Demokratie sei. Mit dieser Mentalität lasse sich keinerlei Stabilität erreichen, konstatierte Karasu.
Syriens Zukunft liegt in der Dezentralisierung
Im Gegensatz dazu verfolge die DAANES einen völlig anderen Ansatz und wolle damit Teil der verfassungsgebenden Diskussionen sein. Mehr noch: Sie wolle, dass alle Bevölkerungsgruppen, Minderheiten und insbesondere Frauen, daran teilhaben. Und sie wolle sich mit Syrien vereinen.
In diesem Punkten sei die DAANES nach Karasu stets bei ihren klaren Forderungen und Vorschlägen geblieben. Das Baath-Regime hatte sie alle abgelehnt, daher sei kein Kompromiss zustande gekommen. Nun sehe die Situation ähnlich aus.
In diesem Bezug unterstrich Karasu, dass auch internationale Kräfte hier die richtige Annäherung zeigen müssten: Die Demokratie in Syrien müsse dezentral sein. Die Drus:innen ebenso wie die Kurd:innen forderten ihre Freiheit, doch beide hätten kein Interesse daran, Syrien zu spalten, sondern sie wollten die Integrität Syriens sichern.
Der Industrialismus ist kein Fortschritt
Nach diesen ausführlichen Bewertungen erläuterte Mustafa Karasu abschließend intensiv seine Perspektiven auf die Klimakrise. Klar formulierte er, dass der menschengemachte Klimawandel das wahrscheinlich gravierendste Problem der heutigen Zeit sei. Nicht nur ein Teil, sondern die gesamte Menschheit verliere hierdurch ihre Lebensgrundlage.
Karasu analysierte im Folgenden den Industrialismus als Ursache der heutigen Lage. Dieser sei kein Fortschritt, sondern Feindlichkeit gegenüber der Natur, der Gesellschaft und der Zukunft. In diesem Sinne seien die aktuellen Bemühungen zu gering. Der ökologische Kampf konzentriere sich zu sehr auf das Endergebnis und zu wenig auf die Wurzel des Ökozids.
Der Industrialismus müsse als Ursache erkannt und bekämpft werden. Häufig werde über Beschränkungen oder andere spezifische Aspekte gesprochen, jedoch ohne hierbei den Profit und die Ausbeutung wirklich zu stoppen. Hiergegen müsse Position ergriffen werden und der ökologische Kampf müsse, ebenso wie die Frauenbefreiung, oben auf die Agenda gesetzt werden.
Das ökologische Paradigma
Karasu führte an diesem Punkt eine Perspektive aus, die das „große Ganze“ einbegreift: „Wir haben unser Paradigma. Es ist ein Paradigma mit drei Säulen: Frauenbefreiung, soziale Ökologie und demokratische Gesellschaft. Genauso wie die Freiheit der Frauen für uns wichtig ist, ist es auch die soziale Ökologie.
Wir haben in Kurdistan große Fortschritte in Bezug auf die Freiheit der Frauen erzielt. Kurdische Frauen haben den Kampf für die Freiheit der Frauen vorangetrieben. Sie sind nicht nur für die Türkei, sondern auch für den Nahen Osten und die ganze Welt ein Vorbild, aber die ökologische Dimension, die eine der wichtigsten Dimensionen unseres Paradigmas ist, wurde bisher nur unzureichend berücksichtigt.
Dieses Bewusstsein ist nach wie vor schwach ausgeprägt. Wir alle tragen dafür Verantwortung, auch wir tragen Verantwortung. So wie wir über die Freiheit unseres Landes und die Freiheit der Sprache und Identität sprechen, müssen wir unsere Natur genauso schützen wie unsere Sprache, Kultur und Identität. Wir müssen uns gegen Angriffe auf die Natur wehren.“
Frauen müssen den ökologischen Kampf vorantreiben
Karasu hält den aktuellen ökologischen Kampf für zu begrenzt und schlägt demgegenüber vor, dass überall ökologische Gemeinschaften, Kommunen, Vereine und Institutionen gegründet werden sollten.
Außerdem unterstrich er die Verbindung zwischen der ökologischen und der Geschlechterfrage als grundlegend wichtige. Karasu zeigte sich der Auffassung dass die Frauenbefreinugsorganisationen und die gesamte Frauenbefreiungsbewegung den ökologischen Kampf vorantreiben müssten: „Denn ebenso wie es eine Vorstellung von der Herrschaft über Frauen und der Ausübung von Macht gibt, gibt es auch eine Vorstellung von der Herrschaft über die Natur. Auch durch diese Vorstellung von Herrschaft wird Macht ausgeübt.“
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