Erdoğans Krieg: Das Ende von Rojava?



Bei einer Demonstration gegen die türkischen Angriffe, Düsseldorf, 26.11.2022 (IMAGO / NurPhoto)

Bild: Bei einer Demonstration gegen die türkischen Angriffe, Düsseldorf, 26.11.2022 (IMAGO / NurPhoto)

Es war nur eine Frage der Zeit, bis das türkische Militär erneut Angriffe auf das Gebiet der autonomen kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien starten würde: Als Mitte November die ersten Bomben in den Städten Kobanê, Dirbesiye, Zirgan und in der Region Dêrik einschlugen und auch Ziele an der Grenze zum Nordirak trafen, zeigte sich schnell, worum es dem Nato-Mitglied Türkei bei dieser jüngsten Offensive ging – um die systematische Zerstörung der Infrastruktur und damit die komplette Zerschlagung der kurdischen Selbstverwaltung in der Region. Die erste Bilanz nach den flächendeckenden Bombardierungen ist verheerend: Über 500 Ziele sollen laut türkischen Medien getroffen worden sein. Dabei wurden über 60 Menschen getötet, davon mindestens 16 Zivilist*innen. 33 Zivilist*innen wurden laut dem Rojava Information Center verletzt.

Noch sind die Folgen der Angriffe für Millionen Menschen nicht in ihrem ganzen Ausmaß abzusehen. Sicher ist jedoch, dass es nach der Zerstörung von Kraftwerken und Ölfeldern in tausenden Haushalten und den Flüchtlingslagern an Elektrizität, Gas und Diesel mangeln wird – angesichts des bevorstehenden Winters eine echte Katastrophe. Zentrale Getreidespeicher, Krankenhäuser und Schulen, auch Straßen sind zerstört. Und die Angriffe sind noch nicht vorbei. Die Bevölkerung lebt in Unsicherheit und Angst vor erneuten Bombardierungen. Besonders die Menschen in Kobanê, Manbij und Shebha fürchten weitere Angriffe und die von Erdoğan angedrohte Bodenoffensive.

Seit dem Bombenanschlag auf der zentralen Einkaufsstraße Istiklal in Istanbul mit sechs Toten und 80 Verletzten am 13. November scheint der Wahlkampf der AKP begonnen zu haben – im Juni 2023 finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Trotz zahlreicher Ungereimtheiten – unter anderem hatte ein Regionalpolitiker der rechtsextremen MHP Kontakt zur vermeintlichen Attentäterin – hält die türkische Regierung an dem Vorwurf fest, der Anschlag habe im Auftrag der PKK bzw. von deren syrischer Schwesterpartei PYD stattgefunden, die dies allerdings dementieren. Schon am Tag des Anschlags verkündete der türkische Innenminister Süleyman Soylu: „Der Befehl kam aus Kobanê.“ Stimmen aus Nordostsyrien interpretierten dies schon damals als Kriegsankündigung.

Es ist eine inzwischen hinlänglich bekannte Methode der AKP-Regierung, Terroranschläge für die Mobilisierung nationaler Einheit zu instrumentalisieren. Besonders wenn Referenden oder Wahlen anstehen, ist die Sicherheitspolitik ein Vehikel, um die Bevölkerung an die Regierung zu binden. Dabei geht es besonders oft gegen die Kurd*innen im eigenen Land und an den Grenzen zu Syrien und dem Irak. Anlass, um abzulenken, gibt es nicht nur angesichts der hohen Inflation und der schlechten wirtschaftlichen Aussichten, die die Umfragewerte der AKP in den Keller sacken ließen. Kritik gab es in den letzten Wochen vermehrt auch am Einsatz von Giftgas durch das türkische Militär gegen Guerillaeinheiten der PKK im Nordirak.

Dessen ungeachtet setzt Erdoğan Schweden weiter unter Druck, dem Nato-Beitritt des Landes nur zustimmen zu wollen, wenn die schwedische Regierung sich von der autonomen Selbstverwaltung der Kurden distanziert und deren Unterstützung einstellt sowie kurdische Aktivist*innen ausliefert. Die Luftangriffe unterstreichen die türkische Position deutlich.

Das Verteidigungsministerium in Ankara beruft sich zu deren Rechtfertigung auf das Recht zur Selbstverteidigung in der Charta der Vereinten Nationen – nicht mehr als eine rhetorische Worthülse. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hatte bereits bei den größeren türkischen Militäroperationen in Afrin 2018 und Serêkaniyê 2019 festgestellt, dass sie gegen das Völkerrecht verstoßen. Zu keinem Zeitpunkt hatte eine Bedrohung bestanden, die ein militärisches Eingreifen gerechtfertigt hätte. Ähnlich sieht die Lage jetzt aus. 

Dennoch halten sich die Nato-Staaten mit einer Kritik an den Angriffen auffallend zurück. Die Bundesregierung hat in ihrem einzigen Statement zwar darauf hingewiesen, dass das Völkerrecht gewahrt werden müsse und zivile Ziele nicht Teil der Angriffe sein dürften; im selben Statement hatte sie jedoch das Terrorismusnarrativ der Türkei übernommen. Auch Außenministerin Annalena Baerbock äußerte sich auf dem Nato-Außenministertreffen Ende November in Bukarest besorgt gegenüber ihrem türkischen Amtskollegen und warnte davor, die Militäraktionen auszuweiten. Doch Konsequenzen, gar ein Eingreifen der Nato-Partner muss die türkische Regierung nicht befürchten, zu offensichtlich wird ihr freie Hand gelassen – wohl auch vor dem Hintergrund der türkischen Vermittlerrolle im Ukrainekrieg und der Tatsache, dass die Türkei eine zentrale Rolle für die Verhinderung von Fluchtbewegungen nach Europa spielt. Dabei wären direkte Konsequenzen für die türkische Regierung und Winterhilfen für die kurdischen Gebiete aktuell mehr als angebracht.

Schließlich forciert Erdoğan seit Monaten zudem eine erneute militärische Bodenoffensive in der Region und kündigte immer wieder an, einen 30 Kilometer tiefen Streifen jenseits der syrischen Grenze komplett einnehmen zu wollen, um eine sogenannte Sicherheitszone zu errichten. Zuletzt fokussierte er sich in seinen Drohungen auf die Region um Kobanê und Manbij – also die westlichen Gebiete der Selbstverwaltung. Ob es tatsächlich zu einer solchen Bodenoffensive kommt, ist allerdings noch ungewiss. Russland und die USA kontrollieren den Luftraum der Region und müssen daher auch den jüngsten Luftangriffen zugestimmt haben. Vermutlich hat auch sie die Vermittlerrolle der Türkei im Ukrainekrieg zu ihrer Entscheidung bewogen. Damit liegt auch die Zustimmung zu einer Bodenoffensive in ihrer Hand – die Verhandlungen zwischen den Akteuren laufen, mit noch ungewissem Ausgang. Einmal mehr zeigt sich: Hier geht es nicht um Menschenrechte, Demokratie oder gar eine „feministische Außenpolitik“, sondern um Geopolitik und die Machtverteilung in einer neuen Weltordnung.

Zerstörte Infrastruktur, aber keine Winterhilfe

Und auch ohne Bodenoffensive sind die Folgen der jüngsten Luftangriffe und Bombardierungen verheerend – und sie treffen vor allem die Bevölkerung: In der gesamten Grenzregion zur Türkei ist durch die Angriffe lebenswichtige zivile Infrastruktur zerstört worden. Schon bei den ersten Luftangriffen am 19. November wurden ein Krankenhaus bei Kobanê und das Elektrizitätswerk in der Nähe der Stadt Dêrik getroffen. Zivilist*innen, die zur Hilfe eilten, wurden bei einem zweiten Angriff getötet – insgesamt starben in dieser Nacht elf Menschen. Seither ist die Bevölkerung in Dêrik und den umliegenden Dörfern ohne Strom.

Kurz darauf wurden das zentrale Getreidesilo bei Dirbêsiyê vernichtet, in dem 1000 Tonnen Getreide zur Grundversorgung der Menschen in der Region lagerten, sowie das Gasverteilungszentrum Siwêdiyê zerstört, über das die gesamte Gasversorgung in Nordostsyrien koordiniert und der Verwaltungsbereich Jazira mit Strom versorgt wird. Seither ist die Region, in der knapp eine Million Menschen leben, großenteils ohne Strom. Es wird Monate, wenn nicht gar Jahre dauern, das alte Werk zu reparieren, um die Grundversorgung der Bevölkerung mit Strom und Gas wiederherzustellen. Letzteres nutzen die Menschen nicht nur zum Kochen, sondern im Winter auch zum Heizen. Wer kann, hat sich angesichts dessen einen Generator besorgt; doch auch die Dieselvorräte für private Generatoren könnten schon bald aufgebraucht sein. Denn auch die Ölförderung und -aufbereitung in der Region – und damit eine zentrale Einnahmequelle der Selbstverwaltung – hat durch die Angriffe schweren Schaden genommen. Immer wieder schlugen Raketen auf den Ölfeldern bei Tirbespiyê ein, wo auch raffiniert und der für viele überlebenswichtige Diesel hergestellt wird. Die Ölwirtschaft zu stoppen, bedeutet nichts weniger, als den wirtschaftlichen Bankrott der kurdischen Selbstverwaltung zu forcieren, die sich ohnehin in einer schwierigen ökonomischen Lage befindet.

Zu den Auswirkungen der in vielen Teilen der Region zerstörten lebenswichtigen Infrastruktur kommt die Angst vor weiteren (Drohnen-)Angriffen: Die Bevölkerung traut sich nicht mehr auf die Straße; auch der Schulunterricht wurde ausgesetzt. Nach den Angriffen auf Krankenhäuser befürchten die Menschen zudem, dass weitere medizinische Einrichtungen getroffen werden könnten. Schon in den Kriegen der vergangenen Jahre hat die Türkei Krankenhäuser bombardiert und keinerlei Rücksicht auf Nothelfer*innen genommen. Die Organisation Kurdischer Roter Halbmond, die die medizinische Versorgung in der Region leistet, warnt bereits vor Fluchtbewegungen und einer Zuspitzung der ohnehin schlechten humanitären Lage in den vielen Flüchtlingslagern der Region. Auch ihnen fehlen nach den Angriffen Strom und Gas für die grundlegende Versorgung. Zudem gibt es hier seit Wochen einen Cholera-Ausbruch. Sollten sich die hygienischen Bedingungen noch weiter verschlechtern, werden sich die Infektionsherde weiter ausbreiten. Der letzte Starkregen hat bereits Flüchtlingszelte weggeschwemmt, bald kommt der erste Schnee. Wie sollen die Geflüchteten diese Zeit ohne Gas und Strom überstehen und wie die Bevölkerung ihren Alltag in den Städten und Dörfern organisieren?

Obgleich es Monate dauern wird, die zerstörten Werke, Getreidesilos und Ölfelder wieder instand zu setzen, hat die internationale Gemeinschaft eine große Winterhilfe, wie sie für die Ukraine selbstverständlich erscheint, oder Unterstützung beim Wiederaufbau bisher nicht angekündigt. Stattdessen ist davon auszugehen, dass die Selbstverwaltung und die Bevölkerung einmal mehr auf sich allein gestellt sein werden. Erdoğan wird diesen Krieg weiterführen – sei es mit der angedrohten Bodenoffensive, „nur“ weiteren Drohnenangriffen oder der Regulierung des Wasserzuflusses in die Region. Sein Ziel scheint es zu sein, die Selbstverwaltung dieses Mal komplett zu zerschlagen und die Region endgültig unbewohnbar zu machen.

Die Angriffe stärken den IS

Hinzu kommt: Die türkischen Angriffe stärken auch den sogenannten Islamischen Staat (IS) in der Region; die von ihm ausgehende Gefahr ist nach den Angriffen größer denn je. Denn auch in unmittelbarer Nähe des berüchtigten al-Hol-Flüchtlingslagers im Nordosten Syriens und im Umfeld weiterer Gefängnisse, in denen IS-Kämpfer inhaftiert sind, schlugen Bomben ein. Dabei wurden gezielt die Sicherheitskräfte getroffen, womit sich die ohnehin schon prekäre Lage dort weiter destabilisierte. Seither zirkulieren Gerüchte über IS-Mobilisierungen und mögliche Angriffe des IS auf die Gefängnisse.

Dabei war das al-Hol-Lager mit seinen 55 000 Bewohner*innen schon vor den Angriffen eine tickende Zeitbombe; ein Großteil der Menschen im Camp gehört dem IS an, der auch die Regeln im Camp aufstellt. Besonders radikal sind die rund 2000 ausländischen IS-Frauen, die mit ihren Kindern in einem gesonderten Bereich leben. Allein in diesem Jahr wurden laut der autonomen kurdischen Selbstverwaltung über 40 Personen im Camp ermordet. Aufgrund der angespannten Sicherheitslage führten die Sicherheitskräfte der kurdischen Selbstverwaltung bereits im Frühjahr 2021 eine über mehrere Tage andauernde Sicherheitsoperation mit etwa tausend Soldat*innen und Polizist*innen in al-Hol durch; die internationale Anti-IS-Koalition schützte den Luftraum. Und auch die humanitäre Lage in dem Lager ist extrem prekär; seit dem Beginn der Angriffe haben nun vor allem die internationalen Hilfsorganisationen ihre Arbeit dort weitgehend eingestellt.

Die Angst, dass der IS wieder erstarkt, war schon vor den jüngsten Angriffen der Türkei groß. Ende Januar 2022 hat der IS mit 300 Kämpfern das Ghweran-Gefängnis der syrischen Stadt Hasakeh angegriffen und tagelang versucht, die 5000 Insassen – ebenfalls IS-Anhänger – zu befreien. Nur mit Unterstützung der US-Truppen in der Region ist es letztendlich gelungen, den Angriff zurückzuschlagen. Jüngst bekannte sich der IS zudem zu einem Anschlag im nordsyrischen Raqqa.

Doch der Chef der von den USA unterstützten Syrian Democratic Forces (SDF), Mazlum Abdi, hat mittlerweile verkündet, dass die SDF den Kampf gegen den IS im Rahmen der internationalen Koalition aussetzen müsse. Zu groß sei die Bedrohung durch das türkische Militär, zudem würden alle Sicherheitskräfte in der Nähe der türkischen Grenze benötigt. Dabei haben diese schon jetzt nicht genügend Kapazitäten, um die Sicherheit im al-Hol-Lager zu gewährleisten und die Flucht von IS-Familien zu verhindern.

Todesstoß für Rojava?

Damit ist die Lage in Rojava auch aus Sicht der dort tätigen Partnerorganisationen von medico international so gefährlich wie noch nie. Die gesamte Existenz Rojavas scheint aktuell auf dem Spiel zu stehen. Bedroht sind eine Gesellschaft und ein demokratisches Modell, das die dort lebenden Menschen in den letzten zehn Jahren aufgebaut und geprägt haben. Sollte es keine Unterstützung beim Wiederaufbau der Infrastruktur geben oder Erdoğan seine Pläne für eine Bodenoffensive in die Tat umsetzen, könnten Millionen Menschen zur Flucht gezwungen werden und die Region verlassen. Denn die Menschen in Rojava fürchten die türkische Herrschaft bzw. die Kontrolle islamistischer Söldner, wie sie in der Region Afrin bereits Realität ist. Ebenso möglich erscheint zurzeit allerdings auch, dass die autonome Verwaltung im Zuge einer Einigung der beteiligten Großmächte Russland und USA wieder unter die Herrschaft von Baschar al-Assads Syrien gezwungen wird. Auch das würde das Ende jeglicher gewonnener Rechte und Freiheiten in Rojava bedeuten. Dass es keine internationale Unterstützung für das bedrohte Rojava gibt – daran sind die Menschen dort inzwischen gewöhnt. Und dennoch werden die Schutzmächte Russland und USA für die Zukunft der kurdischen Selbstverwaltung entscheidend sein. Stimmen sie einer türkischen Bodenoffensive zu, versetzen sie den Kurd*innen und allen anderen im Gebiet der Selbstverwaltung lebenden Minderheiten den Todesstoß

 

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