Der Islamische Staat ist zurück


Islamismus Der Terrormiliz gelang mit dem Angriff auf das Gefängnis in Hasakeh ein Propagandacoup. Einmal mehr zeigt sich, dass die kurdische Selbstverwaltung in Syrien Unterstützung braucht – die gefangenen IS-Kämpfer sind eine tickende Zeitbombe
 
Die Kämpferinnen der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) haben das Gefängnis von Hasakeh wieder unter ihre Kontrolle gebracht
Die Kämpferinnen der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) haben das Gefängnis von Hasakeh wieder unter ihre Kontrolle gebracht

Foto: AFP via Getty Images

Der IS-Angriff auf das Gefängnis von Hasakeh, in dem 5.000 inhaftierte IS Kämpfer unter Aufsicht der kurdischen Selbstverwaltung in Syrien gefangen gehalten wurden, ist der größte Angriff des IS seit 2019. Es handelt sich um eine gut vorbereitete und langfristig geplante Aktion. Der IS ist zurück – das ist das Zeichen dieses Angriffs.

Fünf Tage lang kontrollierten die Kämpfer des Islamischen Staats das Gefängnis, exekutierten Gefängnispersonal, nahmen Wärter und inhaftierte Minderjährige als Geiseln. Dem IS ist damit ein nicht zu unterschätzender Propagandacoup gelungen, der nachwirken wird. Die Bewohner:innen Hasakehs und anderer Städte sind stark verängstigt und die Sicherheitslage bleibt angespannt. Weil Schläferzellen des IS an verschiedenen Stellen Anschläge verüben, wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Wie viele Gefängnisinsassen wirklich fliehen konnten, ist weiterhin unklar.

Es wird Wochen dauern bis die Situation wieder unter Kontrolle ist. Vermutlich konnten sich die gut bewaffneten IS-Kämpfer in den türkisch besetzten Rückzugsgebieten reorganisieren. Nur das schnelle Einschreiten der kurdischen Truppen hat verhindert, dass noch weitere Leute des Islamischen Staat aus den umliegenden Gefangenenlagern befreit wurden, was offensichtlich der Plan war. Dadurch hätte die Aktion Ähnlichkeiten mit der Befreiung der islamistischen Kämpfer in Abu Graib 2013 bekommen. Darauf gründete der Siegeszug des IS.

Der Islamische Staat demonstriert jetzt Handlungsfähigkeit. Im Windschatten eines möglichen bewaffneten Konflikts in Europa ist diese Nachricht fast unter gegangen. Beherrschte der Krieg gegen den Islamismus jahrelang das westliche Infotainment, scheint mit dem Rückzug des Westens aus diesem Krieg auch der Krieg selbst beendet. Ein Trugschluss, wie sich jetzt zeigt.

Die kurdische Autonomieverwaltung wird alleine gelassen

In diesem von der Anti-IS-Koalition unterstützten Krieg haben ohnehin hauptsächlich kurdische Einheiten gekämpft. Zwischen 2014 und 2019 verloren 10.000 von ihnen das Leben. Baschir al-Assad überließ den Kurden damals das vom Islamischen Staat besetzte Territorium. Dort etablierten sie nach erfolgreichen Kämpfen Schritt für Schritt eine neue gesellschaftliche Ordnung mit demokratischen Strukturen und gleichen Rechten für Minderheiten. Ein Zeichen der Hoffnung in einer Region, in der sich sonst wenig Ermutigendes ereignet.

Doch die autonome Selbstverwaltung wird im Kampf mit dem IS alleingelassen. Länder wie Deutschland halten sich auffallend zurück, wenn es um die Auflösung der dortigen Gefangenenlager geht. Dabei rekrutiert sich der Islamische Staat zu nicht unerheblichen Teilen aus dem Ausland. Insgesamt sind 12.000 IS-Anhänger in Nordostsyrien inhaftiert, unter ihnen 4.000 Internationale (800 Europäer, darunter auch Deutsche) aus etwa 50 Ländern.

Das Gefängnis in Hasakeh ist der größte Gefängniskomplex in der Region: Ein altes Schulgebäude, 2019 ausgebaut, mit schlechten Haftbedingungen und unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen. Außerdem sind 700 Minderjährige, die im Islamischen Staat aufgewachsen sind, dort untergebracht. Deren Lebensbedingungen sollten mit der Unterstützung von medico und der Schweizer Hilfsorganisation Fight for Humanity verbessert werden: Raus aus dem Gefängnis, in ein Leben mit Perspektive. Einige von ihnen wurden in den Kämpfen um das Gefängnis getötet. Knapp 200 der Minderjährigen sind an einem sicheren Ort und werden dort versorgt, ihre Zukunft allerdings ist mehr als ungewiss.

Eine tickende Zeitbombe

In Qamislo und Kobane existieren weitere Gefängnisse. An die 6.000 Frauen des IS und ihre Kinder halten sich noch im Flüchtlingslager al Hol auf – eine tickende Zeitbombe, da die Frauen sich immer weiter radikalisieren. Regelmäßig kommt es zu kleinen Aufständen. Ich habe das Lager mehrfach besucht, zuletzt im Februar 2020. Schon damals war klar, dass die prekäre humanitäre Lage und die unzureichenden Sicherheitsbedingungen vor Ort jederzeit in einer Katastrophe enden könnten. Journalist:innen haben immer wieder über die unhaltbaren Zustände und die Gefahr der Radikalisierung berichtet – die Situation in den Gefängnissen und Flüchtlingslagern ist bekannt.

Das letzte IS-Kalifat wurde im Frühjahr 2019 in Baghouz besiegt. Seitdem bitten Vertreter:innen der kurdischen Selbstverwaltung, der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) und der lokalen humanitären Akteure um internationale Unterstützung. Sie sind mit der Lage überfordert. Es mangelt an Ressourcen, um mit der Situation angemessen umgehen zu können. Würden die europäischen Staaten wenigstens ihre eigenen Staatsangehörigen zurücknehmen, wäre das schon ein Schritt in die richtige Richtung. Doch während man sich hierzulande über fast alle politischen Spektren hinweg mit Forderungen nach der Abschiebung von Kriminellen überbietet, herrscht Stillschweigen über die Rücknahme deutscher Terrorist:innen aus Syrien.

Die neue Bundesregierung könnte in diesen Fragen einen neuen Ansatz wagen, denn langfristige politische Lösungen sind nötig, um die Region zu stabilisieren und ein erneutes Erstarken des Islamischen Staats zu verhindern. Dazu gehört die ausstehende Rückholung von knapp 50 deutschen IS-Kämpfern und deren Familien, genauso wie der Aufbau einer internationalen Gerichtsbarkeit, die die Verbrechen verfolgt und gleichzeit die Menschenrechte der Inhaftierten wahrt. Auch hier kann Deutschland unterstützend eingreifen. Längst überfällig ist außerdem die Aufnahme von Gesprächen mit der kurdischen Selbstverwaltung von Nordostsyrien. Die Selbstverwaltung muss als politischer Akteur international anerkannt werden, Deutschland kann und muss es hier Schweden, Frankreich und anderen Ländern gleich tun. Auch das ist eine Lehre aus den jüngsten Ereignissen.

Nur wenige Tage nach dem Gefängnisüberfall kam es zu türkischen Luftangriffen auf kurdische Ziele. Bombardiert wurden das kurdische Flüchtlingslager Makhmour, das Shengal-Gebirge im Nordirak sowie ein Dorf bei Dêrik in Rojava. Eine bekannte türkische Militärstrategie: Angreifen, wenn die Sicherheitslage schon unsicher ist. Dem IS sei Dank.

Anita Starosta ist bei medico international in der Spender*innenkommunikation tätig. Außerdem ist die Historikerin in der Öffentlichkeitsarbeit für die Türkei, Nordsyrien und den Irak zuständig

 

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