YBŞ zum 8. Jahrestags des Genozids in Şengal
Acht Jahre nach dem IS-Massaker in Şengal sind Schmerz und Wut ungebrochen. Die YBŞ weisen auf die andauernde Bedrohung durch den türkischen Expansionismus hin und erklären, die ezidische Gemeinschaft gegen alle Angriffe zu verteidigen.
Vor acht Jahren, am 3. August 2014, begann mit dem Überfall der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) der Genozid und Femizid am ezidischen Volk und den Frauen in Şengal. Die Generalkommandantur der YBŞ (Widerstandseinheiten Şengals, ku. Yekîneyên Berxwedana Şengalê) hat zu diesem Anlass eine Erklärung veröffentlicht, in der sie an die Gefallenen des damaligen Widerstands erinnert und auf die aktuelle Situation eingeht. Der nach dem IS-Massaker gegründete Militärverband erklärt, Şengal und seine Bevölkerung weiter gegen alle Gefahren zu verteidigen. Şengal ist das letzte zusammenhängende Siedlungsgebiet der ezidischen Gemeinschaft, die Gefahr des Völkermords besteht weiterhin.
„Wir begehen den achten Jahrestag des Ferman gegen unser Volk und unser Land mit demselben Schmerz und derselben Wut wie damals“, erklärt die Generalkommandantur der YBŞ. Als Ferman bezeichnen die Ezid:innen die blutigen Angriffe auf ihr Volk. Während der Begriff im osmanischen Sprachgebrauch für ein Dekret des Sultans stand, nahm das Wort in der Sprache der Ezid:innen die Bezeichnung für Verfolgung und Pogrome an. Es wird davon ausgegangen, dass die ezidische Gemeinschaft seit dem zwölften Jahrhundert Opfer von mindestens 73 Verfolgungswellen wurde, zuletzt 2014.
„Wir verneigen uns vor den Militanten von Abdullah Öcalan“
„Vor allem wollen wir den Gefallenen des Ferman mit Liebe, Achtung und Dankbarkeit gedenken und uns respektvoll vor ihnen verneigen. Wir erneuern unser Versprechen, den Traum derer, die aus unserem ganzen Land und von außerhalb gekommen sind und ihr Leben für die Freiheit von Şengal geopfert haben, wahr zu machen. In diesen schweren und brutalen Tagen haben wir aus freiem Willen mit eigener Kraft und eigenem Blut den Befreiungskampf begonnen und uns organisiert. Es waren die Militanten von Rêber Apo [Abdullah Öcalan], die damals zu uns gekommen sind. Wir stehen in ihrer Schuld, denn dass wir heute noch hier leben, haben wir diesen Heldinnen und Helden zu verdanken. Deshalb gedenken wir den Gefallenen der HPG, YJA Star, YPG und YPJ und verneigen uns angesichts ihres Einsatzes und Kampfes voller Respekt. Was sie für uns getan haben, bestärkt uns in unserem Sieg“, erklären die YBŞ.
Fern jeder Ethik: „Unsere Werte werden weiter angegriffen“
Der IS habe am 3. August 2014 in der Absicht angegriffen, das ezidische Volk auszulöschen, heißt es weiter in der Erklärung: „Frauen, Mädchen, Kinder, Alte, Junge wurden mit unmenschlichen Methoden getötet. Tausende Frauen wurden gefangengenommen und auf Märkten verkauft. Das Schicksal von Tausenden Menschen, Müttern, Kindern, ist unbekannt. Unser Volk, unsere Werte und unsere Errungenschaften werden auch heute noch fern jeder Ethik angegriffen von denen, die aus dem Schmerz und unseren Wunden politischen Profit schlagen und ihre Herrschaft mit schmutzigen Machenschaften durchsetzen wollen. Der damalige Verrat und die fehlende Ethik der PDK existieren weiter.“
Türkischer Expansionismus: „Es geht nicht nur um Şengal“
Die YBŞ-Kommandantur weist auf das das sogenannte „Şengal-Abkommen“ hin, auf das sich die von der PDK dominierte Regierung der Kurdistan-Region Irak (KRI) und die irakische Zentralregierung in Verhandlungen im Oktober 2020 unter Beteiligung der Vereinten Nationen geeinigt haben: „Das Abkommen richtet sich konkret gegen uns, aber es sollte bekannt sein, dass dieser verräterische Plan auf die Besatzung des Irak abzielt. Der faschistische türkische Staat, der Völkermorde begeht und fremde Gebiete besetzt, träumt von einer Rückkehr zu den Grenzen des Misak-ı Milli [Nationalpakt; ein Anfang der 1920er Jahre im osmanischen Parlament entworfener Plan, der ein türkisches Staatsgebiet inklusive Thrakien, Nordsyrien und Nordirak vorsieht]. Das Ziel ist nicht nur der Boden von Êzdîxan [Land der Ezid:innen], sondern die gesamte Region. Wenn nur Şengal das Ziel wäre, würde der türkische Staat nicht gleichzeitig die Medya-Verteidigungsgebiete, Mosul, Kerkûk, Zaxo, Syrien und Rojava anvisieren und angreifen. Das muss der Bevölkerung der Region bewusst sein, sie muss vereint gegen diese Angriffe Stellung beziehen. 2014 war es Şengal, heute sind es Zaxo, Kerkûk und Mosul. Die Menschen aus der gesamten Region befinden sich in der Schusslinie. Solange kein Bündnis der Völker entsteht, wird es weiter zu Massakern wie in Zaxo kommen. Der Plan sieht vor, die Bevölkerung zu vertreiben und ihr Land zu besetzen.“
„Wir sind eine Kraft, die ihr Volk und seine Geschichte verteidigt“
Die YBŞ erinnern an die Şengal-Gefallenen Mam Zekî, Berxwedan, Dijwar, Nûjiyan, Zerdeşt, Agir, Dilgeş, Berivan, Faraşin und Şervan und erklären: „Wir haben einen hohen Tribut gezahlt. Heute sind wir mehr denn je bereit, den Irak zusammen mit allen Völkern der Region gegen eine Besatzung zu verteidigen. Wir werden das leisten, was für den Schutz unserer Werte und dieses Landes notwendig ist. So wie die Gefallenen aus ihren Körpern einen Schutzschild errichtet und sich opferbereit den Besatzern entgegengestellt haben, werden auch wir mit gleicher Opferbereitschaft eine Besatzung verhindern. Unser Volk und seine Verteidigungskräfte werden alle schmutzigen Pläne scheitern lassen und die feindlichen Illusionen zunichte machen.
Niemand sollte davon ausgehen, dass wir angesichts der Angriffe des Feindes zurückweichen werden. Wer so denkt, begeht Selbstbetrug. Unser Rachegefühl wird täglich größer. Das sollte bedacht werden, wenn sich jemand an den mit dem Blut von Tausenden Gefangenen erschaffenen Werten vergreifen will. Wir sind eine Kraft, die ihr Volk verteidigt. Wir sind die Fedai [Opferbereiten] dieses Volkes und seines Landes, Glaubens, seiner Kultur und Geschichte.
Aus diesem Grund rufen wir unser Volk außerhalb von Êzdîxan zur Rückkehr auf. Wir haben inzwischen die Kraft, unser Volk gegen jede Form des Verrats und schmutzige Angriffe zu verteidigen. Alle Menschen sollten erkennen, dass Barzanî und die PDK auf der Seite des Feindes stehen und die Bevölkerung für ihre schmutzigen Machenschaften und ihren eigenen Profit benutzen. Es findet täglich schmutzige Angriffe statt, denn die verräterische Gesinnung des Barzanî-Clans hat nicht nachgelassen.“
Hintergrund: Die Gründung eigener Selbstverteidigungseinheiten
Kämpferinnen des autonomen Frauenverbands YJŞ
Die Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ) und der autonome Frauenverband YJŞ (Yekîneyên Jinên Şengalê) sind nach dem IS-Massaker von 2014 mit Unterstützung der PKK-Guerilla und der YPG/YPJ aus Rojava gegründet worden. Andere kämpfende Zusammenschlüsse blieben autonom und schlossen sich später den Haschd al-Schaabi an, einer Schirmorganisation verschiedener gegen den IS kämpfenden Verbände ohne weitere einheitliche politische Agenda. Während die Haschd al-Schaabi auf Anregung des schiitischen Ayatollah al-Sistani gegründet wurden und als Ganzes weithin mit dem ebenfalls schiitisch geprägten Iran assoziiert werden, spiegelt sich dies in ihrem Vorkommen in Şengal nur sehr begrenzt wider. Der größere Teil der in ihnen integrierten Gruppen Şengals setzt sich aus der ezidischen Bevölkerung zusammen. Formell sind auch die YBŞ/YJŞ seit 2017 an die Haschd al-Schaabi angegliedert und stellen deren 80. Regiment. Die Beziehungen zu den anderen Haschd-al-Schaabi-Regimentern sind gut, allerdings bleibt die Befehlsbefugnis über YBŞ/YJŞ de facto bei ihrer eigenen Kommandantur.
Von Beginn an drückt sich die Besonderheit der YBŞ/YJŞ gegenüber staatlichen Armeen vor allem durch ihren hohen ideologischen Anspruch aus. Die YBŞ/YJŞ beziehen sich auf die Ideen des Demokratischen Konföderalismus und des damit verbundenen Konzepts der legitimen Selbstverteidigung einer Gesellschaft. Sie begreifen sich als Mittel, den Schutz ihrer Bevölkerung gemäß deren Willen umzusetzen, und sind hierfür an das politische Organ des Demokratischen Autonomierats Şengal (MXDŞ) angebunden. Um Machtmissbrauch in den eigenen Reihen zuvorzukommen, findet eine beständige Reflexion, Kritik und Selbstkritik innerhalb dieser militärischen Einheiten statt; Kritik und Selbstkritik wird als hoher Wert betrachtet. Ein leitender Rat aus 50 Personen sowie die 15-köpfige Kommandantur werden in einer eigenen Konferenz gewählt, zu der wiederum alle Einheiten gewählte Delegierte entsenden. Wie alle Mitglieder erfahren auch Führungspersonen Kritik bezüglich ihrer Arbeiten und Umgangsweisen. Bei wiederholt auftretenden Problemen oder gravierenden Fehlern wird eine Kommission gebildet, die über Konsequenzen entscheiden kann. So ist es beispielsweise möglich, betreffende Personen zur Teilnahme an besonderen Fortbildungen zu verpflichten oder bei besonders schwerem Fehlverhalten Führungspersonen abzuwählen.
Ein weiteres zentrales ideologisches Prinzip sind die Befreiung und der eigene Wille von Frauen. In den YJŞ organisieren Frauen sich hierfür in eigenständigen Einheiten und mit ihrer eigenen Kommandantur.
Der Genozid und Femizid von 2014
Şengal wurde bis in den Juni 2014 hinein militärisch von der Kurdistan-Region Irak (KRI) und der föderalen Regierung des Irak kontrolliert. Nachdem die Stadt Mosul am 10. Juni in die Hände des sogenannten IS gefallen war, zog sich die irakische Armee in Richtung Süden aus Şengal zurück und hinterließ dabei Waffen und militärisches Material. Als Reaktion darauf bezogen PDK-Peschmerga freigewordene Stellungen. Sie beschlagnahmten die zurückgelassenen Kampfmittel, die sich kurzzeitig die lokale Bevölkerung angeeignet hatte, mit dem Versprechen, die Region gegen den IS zu verteidigen.
Aufnahmen aus Şengal nach dem IS-Angriff vom 3. August 2014
Als der IS in der Nacht auf den 3. August die Region angriff, zogen sich allerdings auch die Peschmerga – mitsamt der beschlagnahmten Waffen – kampflos nach Hewlêr (Erbil) zurück und überließen die Bevölkerung dem Aggressor. Ezid:innen, die in die Hände des IS fielen, erwarteten Massenhinrichtungen, Vergewaltigungen und Versklavung. Die Zahl der Todesopfer wird von verschiedenen Quellen auf 5000 bis 10 000 beziffert, bislang konnten in der Region 81 Massengräber lokalisiert werden. Etwa 7000 Frauen wurden in die Sklaverei verschleppt; einige von ihnen befinden sich bis heute in der Gewalt von IS-Anhängern in anderen Ländern. 2700 bis 2800 Menschen gelten immer noch als vermisst.
Trotz dürftiger Bewaffnung wurde in mehreren ezidischen Dörfern, vor allem in Gir Zerik und Sîba Şêx Xidir, von den dort Ansässigen stundenlang erbitterter Widerstand geleistet. Tausenden Menschen wurde so die Flucht ermöglicht. Rund 50.000 Personen retteten sich trotz Hitze und Entbehrungen erfolgreich in das schützende Şengal-Gebirge. Sie wurden von bewaffneten Ezid:innen und einer Handvoll Kämpfer:innen der Volksverteidigungskräfte (HPG), der Guerilla der PKK, weiter verteidigt. Am 6. August traf Verstärkung durch Kämpfer:innen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava ein. Unterstützt von Luftangriffen der internationalen Anti-IS-Koalition gelang es diesen Kräften, vom 9. bis zum 11. August einen Fluchtweg nach Nordostsyrien freizukämpfen, über den etwa 35.000 Menschen die Flucht gelang. Rund 15.000 Ezid:innen blieben in den Bergen, um den Widerstand fortzuführen.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen