Nordsyrien: Amnestie für Strafgefangene, IS-Angehörige entlassen

Al-Hol Camp im Oktober 2019. Bild: Y. Boechat (VOA)/gemeinfrei

In Nordsyrien sollen nun die Frauen und Kinder von inhaftierten syrischen IS-Kämpfern aus dem Lager al-Hol freigelassen und in ihre arabische Stämme integriert werden - ein riskantes Projekt. Die ausländischen IS-Anhänger sollen dagegen im Lager verbleiben, bis eine Lösung mit den ausländischen Regierungen zur Überführung gefunden wird.

Das Lager al-Hol gilt als eines der gefährlichsten Lager der Welt, da dort Zehntausende hochgradig fanatisierte Familienangehörige von IS-Terroristen untergebracht sind. In dem Lager regiert quasi die Sittenpolizei des IS, die "Hisba", mit mehreren Hundert Mitgliedern. 80 Prozent der Frauen aus der letzten eroberten IS-Bastion al-Baghouz, die nach al-Hol gebracht wurden, haben sich der Miliz angeschlossen und terrorisieren die Bevölkerung im Lager.

Für die demokratische Selbstverwaltung ist die Bewachung, Versorgung mit Lebensmitteln und die medizinische Betreuung des Lagers angesichts fehlender internationaler Unterstützung nicht mehr leistbar.

Selbstverwaltung erlässt Amnestie für Strafgefangene

Um die ebenfalls überfüllten Gefängnisse zu entlasten, erlässt die Selbstverwaltung jetzt eine Amnestie für kranke und ältere Verurteilte über 75 Jahre. Davon ausgenommen sind Strafgefangene, die wegen Verrat und Spionage, sogenannter "Ehrenmorde", Drogenhandel und Gewalttaten wie Terroranschläge von Mitgliedern dschihadistischer Organisationen wie dem IS verurteilt wurden. Deren Haftstrafen werden halbiert, lebenslängliche Freiheitsstrafen werden in Gefängnisstrafen bis zu 20 Jahren umgewandelt.

Rangniedrige IS-Anhänger können, wenn sie einen Bürgen haben, ebenfalls freikommen, wie auch flüchtige Verurteilte, sofern sie sich innerhalb von 60 Tagen stellen. Wie viele Strafgefangene dadurch freikommen, ist nicht bekannt.

Vergebliche Forderung nach Rückführung deutscher IS-Anhänger

Die demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien fordert seit Jahren die Rückführung deutscher IS-Anhänger. Dies wurde immer wieder mit der Begründung abgelehnt, es gebe keine konsularische Vertretung der Bundesregierung in Syrien. Grundsätzlich fordert die Selbstverwaltung einen internationalen Gerichtshof vor Ort, der sich mit den Verbrechen der inhaftierten IS-Terroristen befasst.

Beweise in Form von beschlagnahmten Pässen und Dokumenten des IS gibt es kistenweise in Nordsyrien. Per Video festgehaltene Geständnisse inhaftierter IS-Terroristen werden regelmäßig über das Rojava Information Center (RIC) und der kurdischen Nachrichtenagentur ANF der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Doch zu einem internationalen Strafgerichtshof konnte sich die internationale Gemeinschaft bis heute nicht durchringen. Zu groß ist die Gefahr, dass die Beteiligung der Türkei ans Licht und in die Gerichtsakten kommt, daher sitzt man das Problem bis heute aus. Was konkret heißt, die Selbstverwaltung ist mit der Versorgung und Bewachung der etwa 70.000 inhaftierten IS-Anhänger im Lager al-Hol und den Gefängnissen weitgehend auf sich selbst gestellt.

Angesichts der fortwährenden Bedrohung durch die Türkei, die den Menschen in der Region das Wasser vorenthält sowie der fortschreitenden Corona-Pandemie fehlt der Selbstverwaltung das Personal und Equipment in al-Hol. Es gibt immer wieder Ausbruchsversuche, die von der Türkei und ihren islamistischen Söldnertruppen organisiert sein sollen.

Nun sollen 25.000 syrische IS-Angehörige, darunter 17.000 Kinder, aus dem Lager Al-Hol entlassen werden. Die prekäre Versorgungslage in der Region und die katastrophale Situation der Kinder der IS-Angehörigen bewog die Selbstverwaltung zu diesem Schritt. Die Gefahr ist groß, dass der IS im Lager eine neue IS-Generation heranzieht, die zu einer internationalen Bedrohung werden kann.

Aber anstatt die demokratische Selbstverwaltung in ihren Bemühungen, den Menschen der Region Frieden und Sicherheit zu bringen, zu unterstützen, hat Deutschland in den letzten Jahren vor allem die konservativ-islamistische Opposition, die Weißhelme und den ENKS (eine sogenannte Exilregierung mit Sitz in Istanbul und AKP-nah) in der Region gefördert. (Anm. der Redaktion, Ingo Speidel: Der ENKS ist NICHT diei Türkei-hörige Syrische Exilregierung, sondern ein Zusammenschluß von einem halben Dutzend kurdischen Organisationen Nordsyriens, die vom Barzani-Clan, also Erbil, ausgehalten werden.)

Bemühungen um eine demokratische Gesellschaft

Die Hoffnung war, dass sich diese Kräfte durchsetzen. Denn eins fürchtet die Bundesregierung wie der Teufel das Weihwasser: Dass die demokratische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien international anerkannt werden könnte. Die Selbstverwaltung und die links-demokratische syrische Partei PYD werden, wie auch die links-demokratische Partei HDP in der Türkei, von der türkischen Regierung als "Schwesterorganisationen" der kurdischen Arbeiterpartei PKK betrachtet und damit als Terrororganisationen.

Der "Terror" der Selbstverwaltung mit seinen Behörden besteht in Nordsyrien darin, eine basisdemokratische Gesellschaft in einer Region aufzubauen, die auch unter Assad unterentwickelt und deren Bevölkerung (vor allem die kurdische) unterdrückt wurde. Mittlerweile haben sich auch andere Minderheiten der Selbstverwaltung angeschlossen: Armenier, Eziden, und Christen. Sie haben in den Syrian Democratic Forces (SDF) eigene Einheiten.

Auch die arabischen Stämme wenden sich zunehmend der Selbstverwaltung zu, nachdem sie die Erfahrung machen konnten, dass sie mit ihren Anliegen respektiert werden. Die Gesellschaft Nordsyriens im Gebiet der Selbstverwaltung ist in einem permanenten Entwicklungsprozess hin zu Demokratie und Gleichberechtigung der Geschlechter.

Eine komplizierte Aufgabe unter Kriegsbedingungen und einem quasi Rundum-Embargo. Die Bemühungen um eine demokratische Gesellschaft werden aber angesichts der geopolitischen Interessen nicht anerkannt, sondern allenfalls als Spielball für eigene Interessen benutzt.

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