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Nach welchen Kriterien wurden IS-Mitglieder freigelassen?

 


In Nordostsyrien kamen kürzlich 631 ehemalige IS-Anhänger in den Genuss einer Amnestie. Nach welchen Kriterien die vermeintlichen Ex-Dschihadisten freigelassen wurden, erläutert der Vorsitzende der Volksverteidigungsgerichte, Hesen Silêman.

Die in Nord- und Ostsyrien inhaftierten Dschihadisten des selbsternannten „Islamischen Staats“ (IS) stellen nach wie vor das Hauptproblem für die Autonomiegebiete dar. Bei der Frage zum juristischen Umgang erwägt die internationale Gemeinschaft jedoch weiterhin keine Schritte, die Dschihadisten für ihre Taten zur Verantwortung zu ziehen. Islamisten, die in Syrien und anderen Ländern im Namen des IS Menschenrechtsverbrechen begangen haben, bleiben so von der Justiz unberührt. Die Politik der Straflosigkeit ermutigt die Miliz und ähnliche Strukturen zu neuen Verbrechen.

Während die globale Welt an ihrer Haltung festhält, das IS-Problem ausschließlich als militärische Angelegenheit zu behandeln, stellen die in den Gefängnissen und Lagern zu Tausenden inhaftierten Dschihadisten und ihre Angehörigen für die Autonomiegebiete eine erhebliche humanitäre und sicherheitspolitische Herausforderung dar.

19.000 gefangene IS-Mitglieder

Aktuell befinden sich in den Haftanstalten Nordostsyriens insgesamt 19.000 gefangene IS-Dschihadisten. 12.000 von ihnen sind syrische Staatsangehörige, weitere fünftausend sind Iraker. Die restlichen 2.000 IS-Gefangenen sind Ausländer aus 55 verschiedenen Staaten. In den Camps werden rund 67.000 Personen, die sich größtenteils aus den Angehörigen der inhaftieren Dschihadisten zusammensetzen, beherbergt. Die Forderung der nordostsyrischen Autonomiebehörde, die schweren Verbrechen der IS-Gefangenen zu untersuchen, zu dokumentieren und zu ahnden, stößt seit dem militärischen Sieg über den IS im Mai 2019 auf taube Ohren. Die Last des IS wird in jeder Hinsicht auf die Völker Nordostsyriens abgewälzt.

Vorschläge der Autonomieverwaltung

Zum Umgang mit den einstigen IS-Mitgliedern hat die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien der Weltgemeinschaft drei Vorschläge unterbreitet:

1- Einrichtung eines internationalen Sondergerichts für inhaftierte IS-Mitglieder nach dem Grundsatz der Lokalität des Verbrechens,

2- Rückführung der IS-Gefangenen in ihre Heimatländer und eine adäquate Bestrafung

3- Anerkennung der Urteile der Prozesse gegen IS-Mitglieder vor unabhängigen Gerichten der nordostsyrischen Autonomieverwaltung unter internationaler juristischer Unterstützung.

Jeder diese Ideen stehen die meisten Staaten skeptisch gegenüber. Die westlichen Länder halten lieber die Füße still – obwohl die Region unter permanenter Bedrohung steht und die Ressourcen der Selbstverwaltung immer knapper werden.

 

Amnestie für Gefangene

Mit der Zunahme des IS-Problems hat die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens vor zwei Wochen eine Amnestie für syrische Gefangene erlassen. Ausgenommen von der völligen Straffreiheit sind Delikte wie Verrat und Spionage, sogenannte „Ehrenmorde“, Drogenhandel und Gewalttaten wie Terroranschläge. Hier werden die Haftstrafen halbiert und lebenslängliche Freiheitsstrafen in Gefängnisstrafen zu 20 Jahren umgewandelt. Durch die Amnestie kommen aber auch leichte Terrorstraftäter, also rangniedrige IS-Anhänger, frei – sofern sie nicht an blutigen Anschlägen beteiligt waren und einen Bürgen haben. Die Voraussetzungen für diesen Gnadenerweis können nach Behördenangaben insgesamt 848 IS-Gefangene erfüllen. 631 sind bereits auf freiem Fuß und zurück in ihre Stämme integriert worden.

7.000 IS-Mitglieder vor Gericht

Die Entscheidung über die Amnestie hat vor dem Hintergrund sicherheitsrelevanter Aspekte, dem Charakter der Verbrechen der Freigelassenen und der Frage der Umsetzung ihrer Resozialisierung eine Reihe von Diskussionen angestoßen.

Alle Personen, denen Amnestie gewährt worden ist oder die aus dem Gefängnis oder der Haft entlassen worden sind, seien einer eingehenden und sorgfältigen Prüfung unterzogen worden, sagt Hesen Silêman, Ko-Vorsitzender des obersten Volksverteidigungsgerichtes (kurd. Dadgeha Parastina Gel) in Nordostsyrien. Seit der Gründung der Volksverteidigungsgerichte im Jahr 2014 sind rund 7.000 Verfahren gegen syrische Staatsbürger im Zusammenhang mit dem IS aufgenommen worden. In diesem Jahr waren es bereits 900 Prozesse.

„Gegenüber hochrangigen IS-Kadern, also solchen aus der Führungsstruktur, und bewaffneten Mitgliedern, die erwiesenermaßen Verbrechen begangen haben, werden wir selbstverständlich keine Milde walten lassen. Bei den Freigelassenen handelt es sich hauptsächlich um Personen, die im ehemaligen IS-Gebiet im zivilen, administrativen oder kommerziellen Bereich aktiv waren und ihre Strafen größtenteils abgesessen haben“, erklärt Hesen Silêman. Jeder Fall sei einzeln auf Grundlage von Berichten juristischer Komitees der Gefängnisse und Gerichte betrachtet worden. „Das Hauptaugenmerk in diesen Berichten wurde auf die Frage gelegt, ob die von der Amnestie profitierenden Personen eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen.“

Silêman führt weiter aus, dass alle Ex-Gefangenen, die unter die Amnestie-Regelung gefallen sind, in periodischen Abständen von den Sicherheitskräften überprüft werden. Ausschlaggebend für den Straferlass waren Gespräche zwischen dem Demokratischen Syrienrat (MSD) und dem Rat der Stämme in Nordostsyrien. „Die Großfamilien haben für die randniedrigen IS-Gefangenen gebürgt“, sagt Silêman.

IS weiterhin Gefahr für gesamte Region

Zwar sei der IS territorial besiegt, fügt der Jurist hinzu. Dennoch stelle die Miliz weiterhin ein erhebliches Sicherheitsrisiko für die gesamte Region dar. Insbesondere die Reorganisierung von Schläferzellen bereite erhebliche Sorgen. „Unsere Sicherheitskräfte führen laufend neue Operationen gegen die Zellenstrukturen des IS durch. Dabei werden regelmäßig Dschihadisten festgenommen. Aber die institutionelle – damit meine ich die Vollzugsanstalten – und die juristische Infrastruktur Nord- und Ostsyriens ist nicht ausreichend. Wir haben keinen Platz für diese Leute“, so Silêman.

Ausländer warten auf Prozess

Ein weiteres Problem stellten die ausländischen IS-Dschihadisten dar, die noch immer auf ihren Prozess warten. „Wir konnten sie bisher noch nicht vor Gericht stellen. Es ist aber auch unklar, wo sie nach ihrem Verfahren, sollte es auf syrischem Boden stattfinden, ihre Strafe absitzen sollen. Wir sind weder durch Ressourcen noch durch Kapazitäten gedeckt“, sagt Silêman. Zwar setze die Autonomieverwaltung entsprechende Verhandlungen auf der internationalen Ebene fort. „Bisher konnte jedoch kein zufriedenstellendes Ergebnis erzielt werden.“  

Der IS ist nicht nur unser Problem

Derweil rückt ein Wiedererstarken des IS immer weiter in greifbare Nähe. Seit geraumer Zeit zeichnet sich ab, dass die Miliz inmitten einer Reorganisierung steckt. Die Lage ist ernst, sagt auch Hesen Silêman. „Das gemeinsame Vorgehen gegen den IS beschränkt sich bislang auf den militärischen Aspekt. Im juristischen Bereich ist weiterhin keine Zusammenarbeit in Sicht. Die Tatsache stellt aber die Grundlage für die Wiederbelebung des IS“, meint der Ko-Vorsitzende der Volksgerichte. Die dagegen notwendigen Schritte müssten bereits bald eingeleitet werden. „Denn der IS ist nicht nur unser Problem. Er ist eine globale Angelegenheit.“

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