Rojava/Nordostsyrien Corona im Kriegszustand


von Anita Starosta / medico international, 31. März 2020.


Prävention ist alles: Eine Mitarbeiterin des Kurdischen Roten Halbmonds im Gespräch. (Foto: Heyva Sor A Kurd)
Die medico-Partner*innen tun alles für die Corona-Prävention und medizinische Versorgung von Patient*innen – unter enormen Schwierigkeiten und sabotiert von der Türkei. Von Anita Starosta
„Wir geben unser Bestes, aber eigentlich übersteigt das was kommt, jegliche Kapazität. Wir sind mehr denn je auf internationale Hilfe angewiesen, wir brauchen Schutzausrüstung für unser Personal, Masken, Handschuhe, Testmöglichkeiten und Beatmungsgeräte.“ Das sagt uns Sherwan Bery von der medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond auf unsere Anfrage, wie sie mit der aktuellen Bedrohung durch das Coronavirus umgehen. Alle Mitarbeiter*innen des Halbmondes arbeiten momentan rund um die Uhr und bereiten die selbstverwaltete Region in Nordostsyrien auf den Ernstfall vor: Die Ausbreitung von Covid19 würde zu einer weiteren humanitären Katastrophe führen. In einer Region, in der etwa 1,3 Millionen Binnenvertriebe leben und die von Krieg und Besatzung gebeutelt ist, ist es eine schier unmögliche Aufgabe, bei einem Corona-Ausbruch eine angemessene Versorgung der Kranken sicherzustellen.
Vorausschauend hat die Selbstverwaltung Nordostsyriens bereits Anfang März den einzigen offiziellen Grenzübergang vom Nordirak nach Rojava geschlossen. Nur Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen und vereinzelt Journalist*innen können den Tigris noch überqueren. Die Nähe zum Irak und Iran, wo sich der Virus rasant verbreitet und schwerwiegende, tödliche Folgen hat, ließ die Entscheidung zu diesem Schritt wohl nicht schwer fallen.
Neben den medizinischen Vorbereitungen durch den Kurdischen Roten Halbmond sind in Nordostsyrien seit Mitte März alle öffentlich Versammlungen abgesagt, Schulen und Universitäten geschlossen und die Bevölkerung wird aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Straßen werden großflächig desinfiziert, hunderttausend Broschüren gedruckt und verteilt – in Flüchtlingscamps ebenso wie in Städten und Dörfern. Auch in von medico unterstützten Projekten, wie einem Waisenhaus in Remilan, müssen sich die Mitarbeiterinnen neu organisieren: Fortbildungen sind bis auf weiteres ausgesetzt, die Kinder können nicht mehr in Schule und Kindergarten. Nun werden Hygienekits gekauft und alle weiteren Maßnahmen in dem viel zu kleinen Kinderheim angepasst.

Keine Testmöglichkeiten in Nordostsyrien

Die Prävention wird besonders ernst genommen, denn es ist klar: Sollte zu einem Ausbruch der Pandemie kommen, hätte dies dramatischen Auswirkungen. In Syrien gibt es bisher neun positive Covid19-Fälle und einen Todesfall. In Nordsyrien ist bisher kein Fall aufgetreten, aber vermutlich liegt das vor allem an den fehlenden Testmöglichkeiten. Bisher, berichtet uns Bery, müssen sie Test über die WHO nach Damaskus schicken lassen, dort gibt es ein Testlabor. Allerdings dauert das zu lange und es gibt nicht genug Kapazitäten, um den Testbedarf abzudecken. Syrien befindet sich im zehnten Jahr des Krieges, in den vergangenen Jahren wurden landesweit viele Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen zerstört – bis heute ist in den vom Krieg betroffenen Gebieten eine adäquate Gesundheitsversorgung nicht sichergestellt.
Seit Jahren arbeiten die medico-Partner*innen unter der Selbstverwaltung in Nordostsyrien daran, ein neues Gesundheitssystem aufzubauen, mit dem Anspruch, einen kostengünstigen Zugang für die gesamte Bevölkerung herzustellen. Dies ist die die Grundlage für die aktuelle medizinische Vorbereitung auf die Pandemie: Inzwischen sind alle Krankenhäuser und Gesundheitsstationen der Region auf Covid19 eingestellt, in Extraräumen oder Zelten finden Behandlungen von Personen mit Erkältungssymptomen statt, es gibt notdürftige Quarantäneräume.
Wenn die Patient*innen nicht schwer krank sind, werden sie nach der Untersuchung in häusliche Quarantäne geschickt und die Familie erhält kommunale Unterstützung. Ob es Symptome des Covid19-Virus sind oder eine normale Erkältung, ist jedoch schwer zu beurteilen. Diese Unsicherheit betrifft inzwischen hunderte Patient*innen. Der kurdische Halbmond hat 13 Krankenwagenteams mit Schutzausrüstung ausgestattet und ein Notfalltelefon eingerichtet. Hier können sich Kranke nach den Symptomen erkundigen und in akuten Fällen fahren die Teams zu ihnen nach Hause.
In ganz Nordostsyrien gibt es nur 30 Beatmungsgeräte, die momentan aufgeteilt sind auf die Intensivstationen, in denen schwere Fälle überhaupt behandelt werden können – sollte es zu einem Ausbruch kommen, sind das viel zu wenige. Außerdem sind zwei neue Krankenhäuser in Planung, die eigens für mittelschwere Covid19-Fälle ausgestattet werden sollen, eins davon in Hasakeh mit 120 Betten. Hierfür ist der Kurdische Rote Halbmond jedoch auf Hilfe angewiesen, es gibt bisher keine Mittel für die Einrichtung des Krankenhauses. Für die Ausstattung mit spezifischen Geräten – Schutzkleidung, Masken, Handschuhe, Beatmungsgeräte und auch Testkits – stehen sie im Austausch mit der WHO. Es gibt Meldungen von Vereinten Nationen und WHO, dass tausende Testkits nach Syrien geliefert werden sollen, bisher wird die Hilfe jedoch über Damaskus koordiniert und im Nordosten ist noch nichts angekommen. Das bestätigt auch Sherwan Bery. Letzte Woche bekräftigte die Selbstverwaltung daher in einem Appell an die Europäische Union, UN und WHO den dringenden Bedarf und die Bitte um Unterstützung für die Region.

Corona im Flüchtlingslager wäre ein Desaster

Am meisten besorgt ist Bery über die Situation in den Flüchtlingslagern: „In den Camps sind Quarantänemaßnahme quasi unmöglich. Wir haben in allen Gesundheitsstationen Maßnahmen zur Prävention getroffen, aber wir versorgen täglich hunderte Patient*innen, die Gesundheitssituation in den Lagern ist sowieso schwierig.“ In Nordostsyrien sind es knapp 1,3 Millionen Binnenflüchtlinge, die in Flüchtlingslagern, Schulen oder informellen Ansiedlungen auf engstem Raum zusammenleben, oft unter schlechten hygienischen Bedingungen.
Mit der letzten Militäroffensive der Türkei im Oktober 2019 sind erneut zehntausende Flüchtlinge hinzugekommen, für die neue Lager gebaut werden mussten. Bis heute leben tausende Familien in sehr provisorischen Unterkünften unter schlechten hygienischen Bedingungen. Zwar sind die Mitarbeiter*innen in den Flüchtlingslagern aktiv, verteilen Informationen zu Corona und Anleitungen zu hygienischen Maßnahmen – gleichzeitig ist völlig klar: wer auf so beengtem Raum zusammen wohnt, angewiesen ist auf Essensausgaben, medizinische Versorgung in kleinen Krankenstationen, dem ist es unmöglich, das in Europa viel beschworene „physical distancing“ einzuhalten. Noch zynischer erscheint in diesem Kontext #staythefuckhome – für Millionen Menschen ist das Zuhause ein beengtes Flüchtlingszelt, dass sie sich mit Familienmitgliedern von jung bis alt teilen.
Ganz besonders dramatisch – und oft vergessen – ist die Situation der knapp 100.000 Afrin-Flüchtlinge, die sich in der Region Shehba, umschlossen von türkischen Söldnertruppen und syrischem Regime, sowieso mit einer schwierigen Versorgungslage konfrontiert sehen. Hinzu kommt, dass auch hier immer wieder Angriffe durch türkische Milizen stattfinden.
Im Januar wurde mit einem Veto von China und Russland der einzige Grenzübergang für UN-Hilfen in den Nordosten Syriens geschlossen, Hilfsgüter der UN gelangen seitdem nur noch mit Genehmigung von Damaskus in das Gebiet. Das führt schon jetzt zu Mangel und erheblichen Verzögerungen in den Flüchtlingslagern. Sollte der Bedarf – auch durch Corona – steigen, kann die Schließung extreme Folgen für die humanitäre Versorgung haben.
Es besteht akuter Handlungsbedarf. Nicht auszudenken auch, was ein Ausbruch des Coronavirus in den Gefängnissen und in den IS-Sektionen der Flüchtlingslager bedeuten würde. Hier leben nach wie vor tausende internationale IS- Anhängerinnen und Anhänger mit ihren Kindern. Schon jetzt gibt es Berichte über Gefängnisrevolten und erneute Ausbruchsversuche, die Krisensituation führt zu einer weiteren Reorganisierung des IS.

Türkische Söldner drehen das Wasser ab

Die Türkei führt auch in der Pandemie den Krieg niederer Intensität gegen die Bevölkerung in Nordsyrien weiter fort. Das Wasserpumpwerk für die Region Hasakeh liegt in dem syrischen Gebiet, das die Türkei seit Oktober völkerrechtswidrig besetzt hält. So kappen die Türkei-nahen Söldner in Serêkaniyê immer wieder die Wasserversorgung für fast eine halbe Millionen Menschen und setzen sie als Druckmittel in Verhandlungen ein. In einer Zeit, in der Hygienemaßnahmen wie Händewaschen oder Desinfektion höchste Priorität haben, ein mehr als eindeutiges Signal. Und nicht nur das – die einzigen PCR-Testgeräte, um Covid19 festzustellen, befinden sich in dem Krankenhaus im besetzten Serêkaniyê. Mit den PCR-Gerätenwäre es dem medizinischen Personal möglich, eigenständig Test durchzuführen und nicht den langwierigen Weg über Damaskus zu gehen. Eine Rückgabe der Türkei an den Kurdischen Halbmond ist bis heute jedoch nicht absehbar, auch das eine Forderung an die Türkei, die von der internationalen Gemeinschaft umgesetzt werden könnte und zu einer kleinen Verbesserung der Situation führen würde.
In den zehn Jahren des syrischen Bürgerkriegs sind zahlreiche Krankenhäuser durch militärische Angriffe von Syrien und Russland, aber auch der Türkei zerstört worden. Humanitäre und medizinische Helfer*innen sind immer wieder Ziel von Angriffen geworden und mussten unter den widrigsten Kriegsbedingungen arbeiten. In Nordsyrien herrscht momentan eine fragile Waffenruhe, die Vereinbarung zwischen Türkei und Russland in Idlib und Nordostsyrien kann aber jederzeit wieder aufgekündet werden – allein die kurdischen Kräfte der SDF schlossen sich bisher dem Appell des UN-Generalsekratärs António Gueterres zu einer weltweiten humanitären Waffenruhe wegen der Corona-Pandemie an.
Unter diesen Bedingungen arbeiten die medico-Partner*innen vor Ort unermüdlich weiter – Präventionsmaßnahmen, Quarantänestationen, neue Krankenhäuser in Aufbau… Die Aufgabe, mit der Pandemie fertig zu werden, ist riesig und ohne solidarische Unterstützung nicht umsetzbar.

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