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Aldar Xelîl: Das einzige realistische Modell für Syrien ist die Autonomieverwaltung

 


Der PYD-Politiker Aldar Xelîl warnt vor wachsender Instabilität in Syrien. Er kritisiert die Rolle der Übergangsregierung und radikaler Milizen und sieht im Projekt der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens die einzige tragfähige Alternative.

PYD-Politiker: Föderales Modell statt zentralistischer Machtpolitik
 
ANF / QAMIŞLO, 28. Nov. 2025.

Der kurdische Politiker Aldar Xelîl, Mitglied des Exekutivrats der Partei der demokratischen Einheit (PYD), hat in einem ausführlichen Interview mit ANF die politische Entwicklung in Syrien scharf kritisiert. Die Übergangsregierung setze autoritäre Baath-Strukturen fort, extremistische Gruppen wie Hayat Tahrir al-Sham (HTS) etablierten sich als neue Ordnungsmächte, und internationale Akteure wie die USA würden diese Entwicklungen durch geopolitische Interessen tolerieren. Xelîl warnte: „Wer glaubt, HTS bringe Stabilität, bereitet den nächsten Zusammenbruch vor. Ihre Ideologie unterscheidet sich nicht von der des sogenannten Islamischen Staats.“

Kritik an Übergangsregierung und Ignoranz gegenüber Abkommen

Besonders scharf fiel Xelîls Kritik im Hinblick auf die im März 2025 unterzeichnete Vereinbarung zwischen der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) und der Übergangsregierung in Damaskus aus. Das sogenannte „10.-März-Abkommen“ sah unter anderem gemeinsame Verwaltungsstrukturen, rechtliche Reformen und Sicherheitsabsprachen vor. Doch: „Kein einziger Punkt wurde umgesetzt“, so Xelîl. Stattdessen habe HTS nur zwei Tage nach Unterzeichnung einen eigenen Verfassungsentwurf veröffentlicht, der zentrale Inhalte des Abkommens offen unterlaufe.


„Sie fordern von uns immer wieder, die Waffen niederzulegen – aber gleichzeitig ignorieren sie jede Vereinbarung über Bildung, Gesundheit oder Menschenrechte. So funktioniert kein Dialog“, sagte Xelîl. Der Umgang mit dem Abkommen sei bezeichnend für eine politische Linie, die nicht auf Teilhabe, sondern auf Kontrolle abzielt.

HTS – Legitimation durch Macht statt durch Mandat

Besonders kritisch äußerte sich Xelîl über die Rolle der radikal-islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und deren Anführer Abu Muhammad al-Dschaulani alias Ahmed al-Scharaa. Dieser versuche, sich als politischer Akteur zu legitimieren – mit westlicher Unterstützung. „Al-Dschaulani ist nicht durch Widerstand oder demokratische Legitimation an diesen Punkt gekommen, sondern durch internationale Deals“, sagte Xelîl.

„Er fuhr sinnbildlich von Idlib nach Damaskus – mit dem Segen externer Mächte.“ Die internationalen Unterstützer – darunter auch die USA – schätzten HTS offenbar als nützlich ein im Spiel gegen Iran, Russland oder zur Stabilisierung Israels.  Doch diese Rechnung, warnt Xelîl, werde nicht aufgehen: „HTS ist nicht besser als der Islamische Staat – sie lehnen Demokratie und Frauenrechte ab, ihre politische Sprache ist die Einschüchterung.“

Homs als Brennpunkt eines gescheiterten Systems

Ein zentrales Beispiel für das Scheitern der Übergangsregierung sieht Xelîl in der Stadt Homs. Die Region, einst eine der Hochburgen des zivilen Widerstands gegen das Assad-Regime, ist heute Schauplatz von wachsender Verunsicherung und zunehmender konfessioneller Gewalt. „Seit der Machtübernahme erleben wir in Homs eine gefährliche Dynamik: Nicht mehr nur Opposition gegen die Regierung, sondern gezielte Spaltung zwischen Alawiten und Sunniten – das hat es selbst in den dunkelsten Jahren des Krieges nicht gegeben“, so Xelîl.

Er warnt, dass die Regierung die Kontrolle über ihre eigenen Milizen verliere oder sie bewusst instrumentalisiere, um bestimmte Bevölkerungsgruppen einzuschüchtern: „Die Regierung organisiert Angriffe und schiebt sie sektiererischen Gruppen in die Schuhe – das ist brandgefährlich.“

Laut Xelîl wird der Unmut in der Bevölkerung zunehmend sichtbar: In den jüngsten Protesten in Homs hätten Menschen offen ihre Enttäuschung über die neue Regierung geäußert – und in Slogans sogar die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) als Schutzmacht angerufen. „Das zeigt nicht, dass die Menschen eine Besatzung wollen. Es zeigt, dass sie unserem Projekt vertrauen – weil dort, wo wir sind, keine sektiererischen Übergriffe passieren, keine Folter, keine Repression gegen friedliche Stimmen.“

Gerade Homs zeige exemplarisch, warum der Versuch, Syrien durch eine neue, zentralistische Macht neu zu ordnen, scheitern werde: „Wer denkt, Syrien durch Kontrolle statt Dialog stabilisieren zu können, wird neue Gewalt ernten – und zwar in Homs zuerst.“

Internationale Interessen vs. syrische Realität

Für Xelîl ist die Passivität westlicher Staaten gegenüber HTS kein Ausdruck von Unkenntnis, sondern von eigennütziger Berechnung. „Die USA verfolgen ihren Plan nicht seit gestern – sie verfolgen ihn seit dem Sturz Saddams. Ihr Ziel ist eine Syrien-Ordnung, die ihre regionalen Interessen schützt. Wer da regiert, ist zweitrangig, solange es geopolitisch passt.“

Auch al-Dschaulani beziehungsweise Syriens selbsternannter Übergangspräsident al-Scharaa sei Teil dieses Kalküls, ebenso wie die gezielte Schwächung der Autonomieverwaltung: „Sie wissen, dass unser Projekt nicht ihren Interessen entspricht – weil es von unten wächst, weil es demokratisch ist, weil es Gleichheit fordert.“

Demokratische Selbstverwaltung als Gegenmodell

Dem stellt Xelîl das Projekt der DAANES entgegen – als Ergebnis eines 14-jährigen Kampfes gegen autoritäre, islamistische und koloniale Strukturen. Die Autonomieverwaltung sei das einzige Modell, das sich in der Praxis bewährt habe – durch Pluralismus, lokale Mitbestimmung und Gleichstellung der Geschlechter.

„Unsere Stärke liegt nicht nur im Militärischen. Wir haben eine organisierte Zivilgesellschaft, eine funktionierende Verwaltung, eine klare Vision. Wer meint, uns entwaffnen zu können, ohne unser System zu verstehen, zielt auf Zerschlagung, nicht auf Integration.“

Einladung zum Dialog, aber mit Respekt

Xelîl betont, dass die Autonomieverwaltung keinen Alleinvertretungsanspruch erhebt, wohl aber ein Recht auf Mitsprache einfordert. „Wir sagen nicht: Nur wir. Wir sagen: Lasst uns gemeinsam entscheiden. Aber eine Regierung in Damaskus ohne Vertreter:innen aus Nord- und Ostsyrien kann nicht legitim sein – weder innenpolitisch noch international.“

Er ruft die politischen Kräfte Syriens auf, das Projekt der demokratischen Nation ernsthaft zu prüfen. Zentralismus und Sektierertum hätten das Land an den Rand der Auflösung gebracht – Dezentralisierung sei kein Separatismus, sondern eine Brücke zur Einheit.

Demokratische Alternative statt autoritärer Reinkarnation

Am Ende steht für Xelîl die Grundfrage, wer Syrien künftig prägen soll: „Ein Modell wie unseres, das auf Beteiligung und Vielfalt basiert – oder ein autoritäres System, das nur ein neues Gesicht trägt?“ Seine Antwort ist klar: „Wer Syrien retten will, muss sich von Baath, HTS und IS gleichermaßen lösen. Es gibt nur ein Projekt, das das kann – unseres.“

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