Istanbul: Tausende demonstrieren gegen Krieg und Repression
In Istanbul haben linke und kurdische Parteien zu einer Großkundgebung für Frieden und Demokratie aufgerufen. Tausende protestierten gegen Kriegseinsätze, Medienzensur, politische Repression und soziale Ungleichheit – begleitet von deutlichen Forderungen
Unter dem Motto „Gemeinsam kämpfen für Brot, Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit“ haben mehrere linke und kurdische Parteien am Samstag eine Kundgebung im Istanbuler Stadtteil Esenyurt abgehalten. Tausende Menschen versammelten sich auf dem zentralen Platz, um gegen Repression, Kriegseinsätze und soziale Ungleichheit zu protestieren.
Zu der Kundgebung aufgerufen hatten unter anderem die Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM), die Arbeiterpartei der Türkei (TIP), die Partei der Arbeit (EMEP), die Föderation Sozialistischer Räte (SMF) sowie die Partei der Arbeiterbewegung (EHP) und die Partei für Soziale Freiheit (TÖP). Die Beteiligung war breit – auffällig viele junge Menschen nahmen teil, viele in traditionellen kurdischen Kleidern, mit Fahnen in den Farben Rot, Gelb und Grün.
Das Gelände war bereits am Morgen gut gefüllt. Begleitet wurde die Kundgebung von Sprechchören, Tanzkreisen, musikalischen Darbietungen und politischen Transparenten. Immer wieder erklangen Rufe wie „Schulter an Schulter gegen den Faschismus“ und „Bijî Serok Apo“ (Lang lebe Vorsitzender Apo).

Kritik an Kriegseinsätzen und autoritärer Politik
Zentrale Themen der Kundgebung waren die anhaltende türkische Militärpräsent in der Kurdistan-Region des Irak (KRI) und in Teilen von Syrien, die Aushöhlung der Demokratie im Inneren sowie die soziale Krise im Land. In zahlreichen Redebeiträgen wurde die Regierungspolitik der AKP/MHP-Koalition scharf kritisiert.
Tuncer Bakırhan, Ko-Vorsitzender der DEM-Partei, sprach von einem „historischen Moment“ und rief zur Beendigung der Gewalt im In- und Ausland auf. „Die Türkei braucht keine grenzüberschreitenden Militäroperationen, sondern Dialog und Frieden mit den Völkern der Region“, sagte Bakırhan. „Frieden bedeutet: keine toten Jugendlichen, keine zerstörten Leben und keine Milliarden mehr für den Krieg.“
Die im türkischen Parlament eingerichtete Kommission, die Vorschläge für eine Lösung der kurdischen Frage erarbeiten soll, sei ein möglicher Schritt, müsse jedoch mit konkreten Maßnahmen unterfüttert werden, unter anderem mit der Freilassung des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan, so Bakırhan. Er forderte ein Ende der Zwangsverwaltung in oppositionsgeführten Kommunen, die Freilassung politischer Gefangener und ein gleichberechtigtes Zusammenleben aller ethnischen und religiösen Gruppen.

„Frieden gehört allen“
Auch Erkan Baş, Vorsitzender der TIP, betonte, dass der Ruf nach Frieden keine parteipolitische, sondern eine gesamtgesellschaftliche Forderung sei. „Frieden wird uns nicht geschenkt – er ist ein Produkt gemeinsamer Anstrengung und Solidarität“, sagte er. „In jedem Krieg sterben zuerst die Kinder der Armen.“
Seyit Aslan, Vorsitzender der EMEP, übte scharfe Kritik an der wirtschaftlichen Lage im Land. Der Mindestlohn liege unter der Armutsgrenze, während der Staat das Budget zugunsten von Unternehmen verlagere. Er sprach sich für eine Neuverteilung der öffentlichen Mittel aus, verwies auf die Unterdrückung oppositioneller Medien wie den Sender Tele1, der nun ebenfalls zwangsverwaltet wird, forderte einen allgemeinen politischen Amnestieprozess und eine klare Friedenspolitik.
Erinnerung an Hakan Tosun
Die Demonstrierenden gedachten auch des vor wenigen Wochen in Esenyurt getöteten Journalisten und Umweltaktivisten Hakan Tosun. Auf Transparenten war zu lesen: „Was geschah mit Hakan Tosun?“ und „Sein Tod ist politisch“. Auch an die junge Studentin Rojin Kabaiş, die vor rund einem Jahr unter ungeklärten Umständen in Wan (tr. Van) starb, wurde erinnert.
Ebenfalls im Zentrum stand die Situation des abgesetzten und inhaftierten Bürgermeisters von Esenyurt, Ahmet Özer. Seine schriftliche Grußbotschaft wurde von CHP-Vize Gökhan Günaydın verlesen. „Ihr habt das Licht entzündet. Wir kämpfen für eine gerechtere Zukunft“, hieß es darin.
Özer betonte seine Unterstützung für einen politischen Lösungsprozess und dankte ausdrücklich den DEM-Spitzen Tuncer Bakırhan und Tülay Hatimoğulları sowie dem CHP-Vorsitzenden Özgür Özel für ihre Solidarität.
Juliana Gözen
Aufruf zur Einheit und zum gemeinsamen Widerstand
Weitere Redner:innen warnten vor gesellschaftlicher Spaltung, zunehmendem Autoritarismus und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit. Juliana Gözen, Sprecherin der TÖP, hob die Bedeutung von Basisorganisationen hervor: „Wenn wir uns nicht organisieren, überlassen wir den Jugendlichen die Straße – oder den Banden.“ Sie rief insbesondere junge Menschen dazu auf, sich für eine demokratische Zukunft zu engagieren.
Auch Hakan Öztürk, Vorsitzender der EHP, sprach sich für die Freilassung von Abdullah Öcalan aus. Wer einen Friedensprozess ernst nehme, müsse auch die Voraussetzungen dafür schaffen, so Öztürk.
Musik, Tanz und klare Botschaft zum Abschluss
Den musikalischen Auftakt machte die Gruppe Koma Vejîn. Die Veranstaltung endete mit traditionellen Tänzen, Sprechchören und Applaus. In seiner Abschlussrede betonte Bakırhan: „Dieser Platz hier ist ein Abbild der Türkei – vielfältig, kämpferisch und voller Hoffnung. Wenn wir zusammenhalten, können wir gewinnen – für ein demokratischeres, gerechteres Land.“
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