Dezentralisierung in Syrien – zwischen föderaler Hoffnung und Furcht vor Spaltung ("adopt a revolution")
Syrien steht vor einer zentralen Weichenstellung. Während Befürworterinnen in der Dezentralisierung den Schlüssel zu Stabilität und Teilhabe sehen, warnen Kritikerinnen vor neuen Konflikten und dem Verlust nationaler Einheit. Der aktuelle politische Prozess zeigt, wie schwierig es ist, regionale Selbstverwaltung und staatliche Souveränität in Einklang zu bringen.
In Syrien wächst die Zahl der Stimmen, die in einer Dezentralisierung oder gar einem föderalen System den einzigen Weg zu dauerhafter Einheit und Stabilität sehen. Während einige in einer regionalen Selbstverwaltung einen Schutzmechanismus gegen neue Unterdrückung und Marginalisierung erkennen, fürchten andere, dass Föderalismus der erste Schritt in Richtung territorialer Zersplitterung sein könnte.
Nach Jahren von Krieg, politischer Ausgrenzung und tiefem Misstrauen gegenüber der Zentralmacht erscheint vielen Syrer*innen ein zentralistisch regierter Staat nicht mehr zukunftsfähig. Vor dem Hintergrund der willkürlichen Grenzziehung in der Region durch das Sykes-Picot Abkommen im Nachgang des Ersten Weltkrieges ist die Idee regionaler Selbstbestimmungsrechte in Syrien nicht neu. Schon lange fordern lokale Akteur*innen mehr Mitsprache bei Entscheidungen über Verwaltung, Bildung, Ressourcen und Sicherheit. Im Nordosten des Landes ist mit der von Kurd*innen geführten Selbstverwaltung längst eine de facto-Autonomie entstanden, die sich in der Praxis nun nicht einfach auflösen lassen wird. In den bis 2018 von der Opposition kontrollierten Gebieten wurden vielerorts über Jahre hinweg Erfahrungen lokaler Selbstverwaltung durch lokale Räte gemacht.
Dezentralisierung: Stimmen für und gegen
Das Ideal eines einheitlichen, souveränen Syriens bleibt für viele Menschen zentral. Das Trauma der libanesischen und irakischen Erfahrung – Staaten im Staat, Milizen nach Identität und ein dauerhafter Verlust des Gewaltmonopols – ist tief präsent. Kritiker*innen warnen, dass Föderalismus als Deckmantel für territoriale Zersplitterung missbraucht werden kann. Einige sehen darin ein Risiko für zukünftige bewaffnete Konflikte zwischen Regionen oder separatistischen Bestrebungen. Syrien ist stark umworben von Ländern wie Türkei, Iran, Israel, Russland und den USA. Einige Akteure könnten dezentrale Strukturen nutzen, um ihren Einfluss zu sichern und einen syrischen Staat zu unterwandern.
Ein autoritärer Zentralstaat könnte jegliche dezentrale Forderung als „Separatismus“ diffamieren und dadurch Dialog unmöglich machen. Gleichzeitig warnen andere, dass Dezentralisierung allein auch eine Illusion sein kann, wenn sie nicht von starken Mechanismen der Rechenschaft, fairen Ressourcenteilung und inklusiver Verfassung getragen wird. Kritiker*innen betonen hingegen, dass Dezentralisierung ohne klare Grenzen und gemeinsame Institutionen neue Konflikte provozieren könnte. Die gerechte Verteilung von Ressourcen, insbesondere Öl, Wasser und Landwirtschaftseinnahmen, bleibe ein neuralgischer Punkt. Regionen mit wirtschaftlicher Stärke könnten sich verselbstständigen, während ärmere Gebiete weiter marginalisiert würden.
Übergangspräsident Ahmad Al-Sharaa betont in seinen Reden immer wieder, Syriens Einheit sei „eine rote Linie“. Al-Sharaa und sein Umfeld lehnen föderale Modelle öffentlich überwiegend ab. Ihre Argumentation: Dezentralisierung ohne nationalen Konsens gefährde die Einheit Syriens. Dennoch sieht er sich mit wachsendem, auch internationalem, Druck konfrontiert, das Land institutionell neu zu ordnen. Denn der Ruf nach föderalen Garantien ist längst mehr als ein kurdisches Anliegen: Auch alawitische, drusische und sunnitische Gemeinschaften außerhalb der Großstädte fordern Mitsprache und Sicherheitsgarantien, die eine Rückkehr zur Diktaturstruktur verhindern sollen. Die Zahl jener, die eine neue politische Ordnung fordern, wächst, allerdings mit unterschiedlichen Motiven und Zielvorstellungen.
Während die Selbstverwaltung Nordostsyriens zuletzt betont hat, nicht auf Abspaltung, sondern auf ein föderales System innerhalb Syriens zu setzen, gehen einige Forderungen aus Suweida, insbesondere von der dort dominierenden Miliz unter Hikmat al-Hijri, deutlich weiter. Hijri spricht offen von einer weitgehenden Autonomie, die über eine klassische Dezentralisierung hinausgeht und im Kern einer politischen Loslösung gleichkäme. Diese Position repräsentiert jedoch keineswegs alle Drus*innen Syriens: Viele sehen darin eine gefährliche Spaltungstendenz und halten an der Vorstellung eines geeinten Landes fest, in dem regionale Rechte und Selbstbestimmung verfassungsrechtlich verankert sind.
Verhandlungen der Selbstverwaltung und der Übergangsregierung: Praxisbeispiel aktueller Föderalismusverhandlungen
Am 10. März 2025 unterzeichnete die Übergangsregierung ein Abkommen mit der Selbstverwaltung und den Syrian Democratic Forces (SDF). Zentrale Institutionen wie Grenzübergänge, Ölfelder und Gefängnisse sollen schrittweise unter staatliche Kontrolle gestellt werden, während lokale Selbstverwaltungsstrukturen teils bestehen bleiben dürfen. Der international begrüßte, aber fragile Deal wurde mehrfach verzögert; es kam zu Zwischenfällen wie Gefechte am Tishrin-Damm und im Viertel Sheikh Maqsoud in Aleppo. Beide Seiten werfen sich Vertragsbrüche vor, innerhalb der AANES wächst die Skepsis, Damaskus wolle vor allem Kontrolle zurückgewinnen, ohne föderale Rechte umzusetzen.
Anfang Oktober 2025 wurden die Verhandlungen unter Vermittlung irakischer und UN-Vertreter fortgesetzt. Im Fokus stehen die juristische Definition lokaler Kompetenzen und der künftige Status der SDF. Während die Selbstverwaltung auf teilweiser Eigenständigkeit ihrer Sicherheitsstrukturen besteht, fordert die Übergangsregierung deren vollständige Eingliederung in die Armee. Laut Beobachter*innen endeten die Gespräche in einer „vorsichtigen Annäherung“. Eine Einigung wurde vertagt, doch beide Seiten wollen weiter verhandeln.
Wer Dezentralisierung pauschal verteufelt, riskiert, die Polarisierung zu verstärken. Wer sie unbedacht einführt, könnte das Land de facto zerreißen. Die Übergangsregierung muss nun zeigen, dass sie Dezentralisierung nicht reflexartig als Bedrohung ansieht, sondern als Gestaltungschance. Gleichzeitig müssen die Regionen und Selbstverwaltungen sich glaubwürdig ihren Beitrag zum gemeinsamen Staat bekennen, etwa durch Integration von Sicherheitskräften, Transparenz und gesamtstaatliche Verantwortung. Die Verfassung sollte dezentrale Garantien enthalten – für Minderheitenrechte, Einnahmenteile, föderale Kontrolle – und gleichzeitig klare Grenzen festlegen, um Zersplitterung abzuwenden. Internationale Akteur*innen und Nachbarstaaten müssen Dezentralisierung als legitimen politischen Prozess akzeptieren und dürfen ihn nicht gezielt unterminieren.
Wie kann es weitergehen?
Alternative Vorschläge sehen vor, dass Regionen substanzielle Selbstverwaltungsrechte erhalten, wobei sie dann aber im Staatsverbund bleiben. Solche Modelle seien leistungsfähiger als starre Zentralstaaten. Die Befürworter*innen föderaler Strukturen sehen in dieser Entwicklung einen wichtigen Schritt, um Syrien langfristig zu stabilisieren. Dezentralisierung kann Vertrauen wiederherstellen, lokale Demokratie stärken und verhindern, dass sich Macht erneut in den Händen weniger konzentriert. Mehr regionale Selbstverwaltung, so ihr Argument, sei kein Angriff auf die Einheit, sondern deren Voraussetzung und ein Weg, um die Vielfalt Syriens und die Demokratisierung des Landes institutionell abzusichern.
Die Zukunft Syriens hängt nun entscheidend davon ab, ob es der Übergangsregierung gelingt, einen Rahmen zu schaffen, der regionale Selbstverwaltung mit nationaler Einheit versöhnt. Eine klug gestaltete Dezentralisierung mit verfassungsmäßigen Garantien, gerechter Ressourcenteilung und klarer Aufgabenteilung könnte den Grundstein für ein stabiles, pluralistisches Syrien legen. Ignoriert Ahmad al-Sharaa die wachsende Sehnsucht nach lokaler Mitsprache, riskiert er, das Land erneut entlang alter Bruchlinien zu spalten und damit die historische Chance auf ein in Vielfalt geeintes Syrien zu verspielen.
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