"adopt": Was bleibt, wenn das Regime fällt – aber die Gewalt bleibt?
"adopt a revolution"
In Homs kämpft eine neue Zivilgesellschaft darum, das Vakuum nach dem Regime zu füllen – mit Solarleuchten in dunklen Gassen und der Frage, wie man ein zerrissenes Land wieder zusammenbringt.
Die Fensterläden standen offen. Zum ersten Mal seit Jahren. Kein Versteckspiel mehr, kein Leben hinter heruntergelassenen Jalousien. Und doch wagte niemand, einen Fuß vor die Tür zu setzen. „Wir haben uns nicht versteckt – aber frei waren wir auch nicht. Auf die Plätze gehen, das ging nicht. Leider.“ So erinnert sich die alawitische Aktivistin Alaa aus Homs an den 8. Dezember – den Tag an dem das Assad-Regime endlich fiel. Ein Tag, auf den viele in Syrien über ein Jahrzehnt gehofft hatten. Der Freiheit versprach und stattdessen neue Unsicherheit brachte. Bis heute.
Homs war von Beginn an ein Epizentrum der syrischen Revolution und eine Stadt, in der sich das Regime besonders perfider Mechanismen bediente. Konfessionelle Spaltungen wurden nicht nur zugelassen, sondern gezielt geschürt. „Das Regime hat Alawit*innen entführt und Sunnit*innen dafür verantwortlich gemacht – und umgekehrt.“ Das Muster: Manipulation, Eskalation, Zersetzung.
Die Spaltung wurde zur Waffe, die Bevölkerung zum Ziel. Die Belagerung ganzer Stadtviertel, der Einsatz schwerer Waffen, der systematische Druck auf die Zivilgesellschaft – in Homs verdichteten sich diese Taktiken während der Herrschaft Assads zu einem Mikrokosmos des syrischen Krieges. Der militärische Widerstand nahm zu, viele Menschen wurden vertrieben. Selbst nach dem offiziellen Ende der Kämpfe blieb die Gewalt. „Ein anderer Krieg begann“, sagt die Aktivistin. Nach dem Sturz Assads änderte sich die Form, nicht aber die Präsenz der Gewalt für viele: neue Akteure an der Macht, neue Unsicherheiten.
Alaa spricht von einer Stadt im Schwebezustand. Von Nachbar*innen, die geflohen sind – und von jenen, die zurückkehren und plötzlich wieder bestimmen wollen, wie die Dinge zu laufen haben. Sie erzählt von der Spannung in der Luft, vom Misstrauen, das bleibt, selbst wenn die Waffen schweigen.
„Diese Toten sind genug – das Blutvergießen muss enden“, sagen manche. Doch für andere ist der Konflikt längst Teil des Alltags geworden.
Kinder streifen allein durch die Straßen von Homs – traumatisiert, verwahrlost, oft ohne Obdach. Viele haben Gewalt erfahren, in Formen, über die kaum jemand offen spricht. Und selbst im Papierkrieg nach dem Krieg ist der Ausnahmezustand spürbar. Für eine Sterbeurkunde, erzählt Alaa, verlangt ein Beamter Geld. Nicht aus Bosheit – sondern, weil sein reguläres Gehalt längst nicht mehr reicht.
Mit anderen Aktivist*innen hat Alaa die Civil Peace Group gegründet – ein Netzwerk mit Familien aus allen Gemeinschaften. Sie dokumentieren Plünderungen, Gewalt, Übergriffe. Die Berichte gehen an lokale Behörden, auch an das Außenministerium. Viele der lokalen Sicherheitskräfte sind in ihre digitalen Chats eingebunden. „Wenn jemand eine Meldung postet – etwa über eine Granate, die irgendwo eingeschlagen ist – werden sofort Patrouillen losgeschickt. Die Kooperation funktioniert erstaunlich gut.“ Und sie ist wirksam. „Ich selbst war sogar bei einer internationalen Konferenz in Frankreich, wo ich dem Außenminister persönlich einen unserer Berichte übergeben habe. Wir arbeiten also wirklich seriös – und transparent. Das ist uns wichtig.“
Neben der Dokumentation engagiert sich die Gruppe auch ganz praktisch für mehr Sicherheit im Alltag. Aus eigener Initiative installierten sie eine solarbetriebene Straßenbeleuchtung in dunklen Gassen. Dort werden Menschen besonders häufig von vorbeifahrenden Motorrädern aus angegriffen – mit Farbbeuteln, Sprengsätzen oder sogar Schüssen.
„Die Infrastruktur in Homs ist durch die langen Jahre des Kriegs völlig zusammengebrochen. Die Hauptstraßen sind noch einigermaßen beleuchtet, aber in den Nebenstraßen – wo die meisten Übergriffe passieren – war es stockdunkel. Die Solarleuchten brauchen keinen Stromanschluss, keine staatliche Erlaubnis – sie leuchten einfach.“
Die Gruppe arbeitet auch mit Kindern. Kleine Feste, gemeinsame Spiele, Begegnungen über die ehemaligen Frontlinien hinweg. „Wir wollen Räume schaffen, in denen Kinder unbeschwert sein können – und gleichzeitig das Gefühl von Normalität und Miteinander stärken.“ Ein weiteres wichtiges Feld: politische Bildungsarbeit. Kurz nach den Massakern an der Küste im März 2025 organisierten die Aktivist*innen gemeinsam mit „Justice for Life“ eine Veranstaltung zu den Autonomiemodellen im Nordosten Syriens. Ein hoch umstrittenes Thema in einer aufgeladenen Situation.
Die Spannungen waren spürbar: Viele Teilnehmende reagierten emotional, einige lehnten das Modell zunächst vehement ab – nicht zuletzt wegen der tiefsitzenden Vorurteile und wechselseitigen Schuldzuweisungen. Trotz der anfänglichen Ablehnung kam es zum Dialog.
Einen Monat später folgte eine weitere Zusammenkunft – diesmal zur Übergangsjustiz. Betroffene, Angehörige von Opfern und Vertreter*innen verschiedener zivilgesellschaftlicher Gruppen kamen zusammen, um über Wege der Aufarbeitung zu sprechen. Dank der Civil Peace Group saßen auch Betroffene aus Homs mit am Tisch.
„Die meisten Organisationen haben keinen Zugang zu Betroffenen in Homs. Erst wir haben die Verbindung hergestellt. Dabei handelt sich um Menschen, die unter dem Assad-Regime in Homs gelebt und gelitten haben – nicht etwa in Idlib oder im Nordwesten Syriens. Sie wurden systematisch vergessen.“
Alaa sieht diese Veranstaltungen und Gespräche als Teil eines größeren Ganzen: Erinnerung schaffen, sichtbar machen, den Raum zwischen den Frontlinien neu denken. „Wenn wir nur in Gegensätzen denken – Nord gegen Süd, religiös gegen säkular – kommen wir nicht weiter.“
Derzeit trifft sich die Civil Peace Group in Cafés oder in einer alten Jesuitenresidenz. Doch das reicht nicht. Ein Zentrum des zivilen Friedens – das ist das Ziel. Ein Ort ohne bewaffnete Männer am Eingang, ohne Genehmigungspflicht. „Wir brauchen Räume. Orte, an denen man sich ohne Angst begegnen kann.“ Diese Haltung zieht sich durch all ihre Aussagen: Kooperation mit der neuen Verwaltung – ja. Kontrolle durch sie – nein. „Unsere Botschaft an die neuen Behörden lautet: Wir sind nicht gegen euch – aber wir behalten euch im Blick.“ Eine neue Sprache der politischen Kultur beginnt hier.
Es ist ein langer Weg. Einer, der zwischen Trümmern und Trauma verläuft, zwischen Wiederaufbau und Rückzug. Aber Hoffnung bleibt. „Manchmal sehe ich die kleinen Dinge: Eine Familie, die wieder zurückkehrt. Kinder, die in der Schule wieder lachen. Eine Straße, die wieder sicher ist. Das ist unsere Hoffnung. Wieder.“
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