Rojavas wirtschaftliche Vision I: Das Genossenschaftsmodell
Rojavas selbstverwaltetes, kooperatives System zielt darauf ab, die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen und die soziale Solidarität inmitten von Krieg, Embargo und Instabilität zu stärken. Leyla Saroxan berichtet über Funktion, Erfolge und Hindernisse.
Die Rojava-Revolution, die am 19. Juli 2012 in Kobanê begann und sich später über ganz Nord- und Ostsyrien ausbreitete, befindet sich bald im vierzehnten Jahr und erregt weiterhin Aufmerksamkeit – unter anderem mit ihrem Wirtschaftsmodell, das auf demokratischem Konföderalismus und den Prinzipien einer ökologischen Gesellschaft basiert.
Dieses System, das auf lokaler Selbstverwaltung gründet, durch Genossenschaften organisiert ist und auf Harmonie mit der Natur abzielt, versucht, die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung zu erfüllen und die soziale Solidarität zu stärken, trotz Herausforderungen wie Krieg, Embargo und Instabilität.
In diesem vierteiligen Bericht untersuchen wir die Wirtschaftsstruktur der Region, kooperative Erfahrungen, aktuelle Herausforderungen und zukünftige Ziele anhand von Interviews mit Leyla Saroxan und Mihemed Sabri, den Ko-Vorsitzenden des Wirtschafts- und Landwirtschaftsrats von Nord- und Ostsyrien, Ciwan Şikrî, dem Ko-Vorsitzenden des Genossenschaftsausschusses, und Ferhad Dede, dem Sprecher der Salzkooperative Star.
Obwohl wir uns zum Ziel gesetzt hatten, andere Genossenschaftserfahrungen direkt zu beobachten und von ihren Vertreter:innen zu hören, konnten wir die erforderlichen Genehmigungen nicht einholen. Aus diesem Grund beschränkt sich unser Bericht auf die Erfahrungen der Salzkooperative.
Grundlagen des demokratischen Wirtschaftsmodells
Leyla Saroxan, Ko-Vorsitzende des Wirtschafts- und Landwirtschaftsrats von Nord- und Ostsyrien, erläutert die Bemühungen der Region um den Aufbau einer demokratischen Wirtschaft und die entscheidende Rolle, die Frauen in diesem Prozess gespielt haben. Trotz der durch Krieg und Embargo besonders schweren Bedingungen versucht der Rat, durch lokale Versammlungen soziale Bedürfnisse zu erfüllen, mit dem Ziel, durch Genossenschaften und einen egalitären Ansatz wirtschaftliche Stabilität zu erreichen.
Was sind der Gründungszweck und die Hauptaufgaben des Wirtschafts-
und Landwirtschaftsrats von Nord- und Ostsyrien? Wie funktioniert der
Entscheidungsprozess innerhalb des Rates?
Der Wirtschafts- und Landwirtschaftsrat von Nord- und Ostsyrien arbeitet in Abstimmung mit den etablierten Kantonsversammlungen. Unser Ziel ist es vor allem, gemeinsam mit diesen Versammlungen ein demokratisches Wirtschaftssystem aufzubauen. Durch dieses demokratische System wollen wir alle Teile der Gesellschaft in die wirtschaftliche Arbeit einbeziehen und sicherstellen, dass jede:r wirtschaftlich selbstbestimmt sein kann. Auf dieser Grundlage bemühen wir uns, alle Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen.
Diese Versammlungen wurden durch demokratische Wahlen gebildet. Alle wirtschaftlichen Fragen werden innerhalb des Rates diskutiert, zusammen mit Vorschlägen aus verschiedenen Regionen, und hier werden Entscheidungen getroffen. Zunächst führt jeder Kanton interne Diskussionen darüber, welche Bedürfnisse und Probleme bestehen und welche Vorschläge zu deren Überwindung gemacht werden können.
Diese Ansichten und Vorschläge werden dann in die Sitzungen des Wirtschafts- und Landwirtschaftsrats von Nord- und Ostsyrien eingebracht, an denen Vertreter:innen aller Kantone teilnehmen. In diesen Sitzungen finden umfassende Diskussionen statt. Dabei werden die landwirtschaftlichen Möglichkeiten sowie die kulturellen Perspektiven und Unterschiede jedes Kantons berücksichtigt. Auf dieser Grundlage werden die Diskussionen fortgesetzt und Entscheidungen gemeinsam unter Beteiligung aller Ratsmitglieder getroffen.
Die Rolle der Frauen in der Wirtschaft und ihre Herausforderungen
Frauen spielen in Ihren Genossenschaften eine wichtige Rolle. Welche Rolle haben Frauen in Ihrem derzeitigen Wirtschaftssystem? Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um die Beteiligung von Frauen zu verbessern, und welchen Herausforderungen stehen Sie in diesem Bereich gegenüber?
Gemäß dem Sozialvertrag muss sowohl in der autonomen Verwaltung als auch in allen unseren Institutionen, einschließlich des Wirtschaftsrats, eine gleichberechtigte Vertretung der Geschlechter gewährleistet sein. In einigen Institutionen liegt der Frauenanteil jedoch über fünfzig Prozent, in anderen darunter. Wir bemühen uns, eine gleichberechtigte Vertretung von Frauen und Männern in allen Institutionen sicherzustellen.
Die Beteiligung von Frauen in unseren Wirtschaftsinstitutionen ist ein vorrangiges Ziel. Unsere Räte sind auf dieser Grundlage strukturiert. Wir arbeiten nach einem System des Ko-Vorsitzes und bemühen uns, sowohl in unseren Räten als auch in unseren Institutionen ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis zu wahren.
Frauengeführte Kooperativen
Wir arbeiten auch daran, die Beteiligung und Vertretung von Frauen in unseren Genossenschaften und Wirtschaftsinitiativen zu stärken. Genauso wie wir allgemeine Genossenschaften haben, gibt es auch spezielle Genossenschaften, die ausschließlich von Frauen geführt werden. Die Mitglieder dieser Genossenschaften sind ausschließlich Frauen, die ihre Genossenschaften unabhängig verwalten.
Von Beginn der Arbeit über die Produktionsphase bis hin zur Vermarktung der Produkte werden alle Phasen von Frauen übernommen. Auf dieser Grundlage arbeiten wir daran, die Zahl der Frauen, die sich in Genossenschaften engagieren, zu erhöhen.
Kapitalistische Mentalität als Hemmnis
Allerdings gibt es ernsthafte Herausforderungen, die in den vorherrschenden Ideen des früheren Systems und der globalen Dominanz der kapitalistischen Ordnung und ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft begründet sind. Die Menschen neigen dazu, sich auf die Gewinnmaximierung zu konzentrieren. Insbesondere in unserer Region leben wir seit Jahren unter Kriegsbedingungen und Embargos, was sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft ausgewirkt hat.
Infolgedessen möchten die Menschen zwar an wirtschaftlichen Aktivitäten teilnehmen, doch die vorherrschende Mentalität und die anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben dazu geführt, dass sich viele nur noch auf finanziellen Gewinn konzentrieren. Das System, das wir entwickeln wollen, zielt jedoch nicht ausschließlich auf Profit oder Produktivität ab. Vielmehr streben wir eine Wirtschaft an, die auf Ökologie und Arbeit basiert.
Verständnis als Schlüssel zur Veränderung
Aufgrund dieser vorherrschenden Mentalitäten standen wir vor vielen Schwierigkeiten. Wenn wir auf die Jahre 2016 und 2017 zurückblicken, als wir mit dem Aufbau von Genossenschaften begannen, gingen viele Menschen davon aus, dass wir Genossenschaften ähnlich denen des früheren Regimes aufbauen würden. Sie betrachteten es als ein Börsenmodell: „Ich investiere mein Geld und erhalte am Ende des Jahres Gewinne.“
Aus diesem Grund waren einige Genossenschaften erfolgreich, während andere die Erwartungen nicht erfüllten; es traten viele Mängel zutage. Wir kamen zu dem Schluss, dass wir, um Genossenschaften auf der Grundlage einer demokratischen gesellschaftlichen Wirtschaft erfolgreich aufzubauen, zunächst das vorherrschende Verständnis korrigieren mussten. Nur dann konnte das Genossenschaftssystem erfolgreich sein. Dies gilt für die Gesellschaft als Ganzes.
Funktionierende Beispiele als Katalysator
Insbesondere Frauen sehen sich mit mehr Hindernissen konfrontiert, da sie oft nicht die Arbeitsbedingungen vorfinden, die sie benötigen. Aufgrund des Einflusses dieser Denkweise stoßen wir auf Schwierigkeiten, die Beteiligung von Frauen sicherzustellen. Es wurden jedoch bedeutende Schritte unternommen. Es wurden Frauenkooperativen gegründet, die von Frauen geleitet werden.
Durch unser Beharren und die entschlossene Beteiligung der an diesen Kooperativen beteiligten Frauen wird diese Arbeit fortgesetzt. Das Ziel ist es, sowohl die Zahl der Frauen als auch die Zahl der von Frauen geführten Kooperativen weiter zu erhöhen.
Die Auswirkungen von Krieg und Embargo auf die Wirtschaft
Wie haben sich der jahrelange Krieg in Syrien, die politische Instabilität unter der Regierung in Damaskus unter Al-Scharaa, der das Baath-Regime abgelöst hat, und die anhaltenden Angriffe sowie die Besetzung durch die Türkei auf Ihre wirtschaftlichen Aktivitäten ausgewirkt? Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um unter solchen Bedingungen die wirtschaftliche Stabilität aufrechtzuerhalten?
Zweifellos hat der seit Jahren andauernde Krieg die regionale Wirtschaft schwer getroffen. Die Blockade des Euphrats durch die Türkei hat sowohl die Energieerzeugung als auch die landwirtschaftlichen Flächen beeinträchtigt. Gleichzeitig hat der Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) unserer Wirtschaft erheblichen Schaden zugefügt. Infolge des Konflikts wurden viele Weizensilos unbrauchbar.
Diese Umstände haben zu ernsthaften Schwierigkeiten geführt. Selbst in Jahren mit ausreichenden Niederschlägen sind wir aufgrund fehlender geeigneter Lagerräume gezwungen, Weizen im Freien zu lagern. Viele Bewässerungskanäle wurden zerstört und sind nicht mehr funktionsfähig. Große Flächen, die für den Bewässerungsanbau geeignet waren, waren früher auf Wasser aus dem Euphrat angewiesen, aber als die Kanäle unbrauchbar wurden, waren wir gezwungen, auf Trockenanbau umzustellen. Es ist jedoch nicht möglich, ein stabiles, strategisches Agrarsystem aufzubauen, das ausschließlich auf Trockenanbau basiert. Die für den Trockenanbau erforderlichen Niederschlagsmengen variieren von Jahr zu Jahr und führen nicht immer zu ausreichenden Erträgen.
Türkische Angriffe gefährden landwirtschaftliche Produktion
Darüber hinaus haben die Angriffe des türkischen Staates auf die Infrastruktur, insbesondere auf Ölquellen, der Wirtschaft erheblichen Schaden zugefügt. Denn das Modell der Bewässerungslandwirtschaft, das wir entwickeln wollen, hängt weitgehend von diesen Quellen und dem daraus gewonnenen Dieselkraftstoff ab. Diese Angriffe haben erhebliche Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktivität gehabt.
Ich betone insbesondere die Landwirtschaft, weil 60 bis 70 Prozent unserer Wirtschaft auf der Landwirtschaft basieren. Wenn Ölquellen angegriffen werden und auch die Niederschläge unzureichend sind, sinken die Ernteerträge erheblich. Darüber hinaus erschwert die Belagerung der Region die Beschaffung notwendiger Rohstoffe und den Export von Überschussprodukten signifikant. Da wir keine offizielle internationale Anerkennung genießen, ist es sehr schwierig, wichtige Güter einzuführen und unsere Produkte zu exportieren.
Fehlende internationale Anerkennung und Embargo verhindern Export
Beispielsweise war die Baumwollernte im Jahr 2023 recht gut. Die Autonome Verwaltung kaufte die Baumwolle zu einem fairen Preis von den Produzent:innen, was die Landwirt:innen sehr freute. Letztendlich konnten wir die Baumwolle jedoch nicht ins Ausland verkaufen, da unsere Region unter Embargo steht. Infolgedessen erlitt die Autonome Verwaltung einen großen Verlust. Insgesamt haben die aktuellen Bedingungen zu einer wirtschaftlichen Instabilität in unserer Region geführt.
Daher haben wir unsere primäre Strategie auf wirtschaftliche Selbstversorgung ausgerichtet. Wir konzentrieren uns darauf, ein System zu schaffen, in dem wir unsere eigenen wirtschaftlichen Bedürfnisse innerhalb unserer eigenen Gebiete decken können.
Beteiligung ethnischer und religiöser Gruppen
Wie stellen Sie die gleichberechtigte Beteiligung verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen an wirtschaftlichen Prozessen sicher? Auf welche Herausforderungen sind Sie in dieser Hinsicht gestoßen?
Das ist ehrlich gesagt der Bereich, in dem wir uns am wohlsten fühlen und in dem wir die größten Erfolge erzielt haben. Jahrelange Arbeit hat uns an einen Punkt gebracht, an dem wir autoritäre und chauvinistische Strukturen beseitigen konnten. Unser gesamtes System basiert auf dem Prinzip der Geschiwsterlichkeit unter den Völkern. Dies gilt auch für den wirtschaftlichen Bereich. Araber:innen, Kurd:innen, Assyrer:innen, Turkmen:innen – wir alle arbeiten Seite an Seite zusammen. Sowohl im sozialen Bereich als auch in unseren Räten sind Repräsentant:innen aller Gemeinschaften vertreten.
Zukunftsvision und Nachhaltigkeit
Wie beurteilen Sie die Nachhaltigkeit Ihres Wirtschaftsmodells auf lange Sicht? Was sind Ihre Ziele für die Zukunft?
In Zukunft wollen wir unser System auf ein stärkeres Fundament stellen und unser Genossenschaftsmodell weiterentwickeln. Unser Ziel ist es, sicherzustellen, dass die Wirtschaft wirklich dem Volk dieser Gesellschaft gehört. Weltweit gibt es viele Beispiele für Genossenschaften, die seit Jahren bestehen. In den meisten Fällen beteiligen sich die Menschen jedoch mit ihrem eigenen Kapital an diesen Genossenschaften. Einige bringen ihre Arbeitskraft ein, während diejenigen, die Kapital einbringen, oft nicht arbeiten, aber mehr verdienen, während diejenigen, die hart arbeiten, weit weniger verdienen als der Wert ihrer Arbeit.
Wir wollen nicht, dass unsere Genossenschaften so funktionieren. Unsere Genossenschaften basieren auf Arbeit. Wir wollen dieses System weiterentwickeln, damit wir unsere Wirtschaft durch Genossenschaften organisieren und die Bedürfnisse der Gesellschaft erfüllen können.
Prioritäten für die wirtschaftliche Entwicklung
Was sind Ihre Prioritäten für die wirtschaftliche Entwicklung der Region? Auf welche Bereiche wollen Sie sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren konzentrieren?
Die landwirtschaftliche Produktion bildet die Grundlage unserer Wirtschaft. Unser Land und unser Klima sind für die Landwirtschaft sehr gut geeignet. Aus diesem Grund ist unsere gesamte Wirtschaftspolitik auf sie ausgerichtet. In der Vergangenheit konzentrierten sich die unseren Regionen auferlegten Maßnahmen auf den Anbau strategischer Kulturen, die ausschließlich als Rohstoffe behandelt wurden. In den kommenden Jahren wollen wir Fabriken entwickeln, die die von uns angebauten landwirtschaftlichen Produkte verarbeiten können.
Mit anderen Worten: Wir wollen nicht, dass die von uns angebauten Pflanzen nur als Grundrohstoffe dienen. Wir wollen unsere Industrie so entwickeln, dass wir diese Produkte verarbeiten und in einer wertvolleren Form an die Gesellschaft zurückgeben können.
Aufruf an die Gesellschaft, sich Genossenschaften anzuschließen
Haben Sie abschließend eine Botschaft oder einen Aufruf an die Gesellschaft, sich stärker in Genossenschaften zu engagieren?
Niemand, der frei sein möchte, kann echte Freiheit erlangen, wenn er oder sie nicht auch wirtschaftliche Freiheit erlangt. Das geeignetste System, in dem Menschen frei leben können, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht, ist das Genossenschaftssystem. In unserem Modell wird eine Genossenschaft, wenn sie erfolgreicher wird, zum Eigentum der Gesellschaft. Jedes Mitglied, das sich an einer Genossenschaft beteiligt, entwickelt ein Gefühl der Eigenverantwortung für seine Arbeit. Eine Person, die nicht Eigentümerin ihrer eigenen Arbeit ist, wird immer in einer Position der Unterdrückung bleiben.
Fortsetzung folgt...
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