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Frankfurt: „Rojava nach dem Sturz Assads“


In Frankfurt hat gestern eine Infoveranstaltung „Rojava nach dem Sturz Assads“ stattgefunden. Die Referent:innen, Dr. Birgit Koch-Dallendörfer und Dr. Michael Wilk, sind beide in diesem Jahr in der Region gewesen und haben aus erster Hand berichtet.

Dr. Birgit Koch-Dallendörfer und Dr. Michael Wilk
 
ANF / REDAKTION, 24. Juli 2025.

In Frankfurt a.M. hat gestern eine Informationsveranstaltung mit Dr. Birgit Koch-Dallendörfer (Gastroenterologin, Notärztin) und Dr. Michael Wilk (Notarzt, Psychotherapeut, Autor) stattgefunden. Der lokale kurdische Frauenrat Amara, das Kurdische Gesellschaftszentrum Frankfurt (NCK) und der Verein Städtefreundschaft Frankfurt-Kobanê haben zum Thema „Rojava nach dem Sturz Assads“ eingeladen.

Der Veranstaltungsraum im kurdischen Verein war bis auf den letzten Platz besetzt, was auf großes Interesse am Schicksal der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) schließen lässt. Auch die jüngsten Massaker an den alawitischen und drusischen Gemeinschaften im Westen beziehungsweise Süden Syriens und der in der Türkei begonnenen Verhandlungsprozess haben zu der großen Anzahl von Teilnehmenden beigetragen, vermuten die Veranstalter:innen.

Delegation nach Rojava

Dr. Birgit Koch-Dallendörfer, stellvertretende Vorsitzende des Verbands kurdischer Ärzte in Deutschland e.V., bereiste Nordostsyrien (Rojava) im Mai und Juni als Mitglied einer von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) teilfinanzierten Informationsreise.

Die GIZ (ein deutsches Bundesunternehmen, das im Auftrag der Bundesregierung im Bereich der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung tätig ist) fördert die erste Klinikpartnerschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rojava mit dem Krankenhaus in Dêrik (al-Malikiya). Die Klinikpartnerschaft ermöglicht sowohl finanzielle Unterstützung als auch die Ausbildung von medizinischem Personal. Die Delegation besuchte auch andere Krankenhäuser und führte Gespräche unter anderem mit der Universität Qamişlo und der Ärztekammer.

Öffentliche Einrichtungen durch Übergangsregierung eingeschränkt

Koch-Dallendörfer berichtete vom anhaltenden Wasser- und Strommangel, den schwierigen ökonomischen Bedingungen und den Behinderungen durch die islamistische Übergangsregierung. Diese erkenne beispielsweise keine Weiterbildungszertifikate im medizinischen Bereich aus Nord und Ostsyrien an, auch wenn sie nach dem alten syrischen System erworben wurden. Zudem erkenne Damaskus keine einzige Universität von Rojava an, obwohl die Studiengänge auf dem syrischen Ausbildungsprogramm basierten.

Die berufliche Unsicherheit könne zum weiterem Brain-Drain (Abwanderung von hochqualifizierten Fachkräften, wie Akademiker:innen und Wissenschaftler:innen) führen, befürchtet die Ärztin. Ärzt:innen, deren Gehälter von der Selbstverwaltung gezahlt werden, sind verpflichtet täglich sechs Stunden im öffentlichen Gesundheitswesen zu arbeiten. Doch bereits jetzt leidet die medizinische Infrastruktur darunter, dass diese die Zeit dafür nutzten, um Patient:innen für ihre Privatpraxen abzuwerben, berichtete Koch-Dallendörfer.

Schwierige Lage der Vertriebenen

Nach wie vor sei auch die Lage der Geflüchteten eine große Belastung für die Selbstverwaltung. Die aus den türkisch besetzten Gebieten Vertriebenen hätten zwar große Hoffnung auf Rückkehr, doch zurückgekehrte Familien berichten von hohen Geldforderungen der Besatzer und jetzigen Bewohner ihrer Häuser.

Dass die Selbstverwaltung viele Geflüchtete in Schulen unterbringen musste, bedeute dort auch einen Unterrichtsausfall. Besonders in den mehrheitlich arabisch bewohnten Ortschaften birge dies die Gefahr der Entsolidarisierung und erheblicher sozialer Spannungen. Diese Spannungen schüre die islamistische Übergangsregierung bewusst, weshalb für Michael Wilk die größte Sorge darin bestehe, dass die „reaktionäre zentralistische Regierung einen Keil zwischen die Bevölkerung treiben kann“.

Friedliches Zusammenleben der Ethnien in Gefahr

Auch die faschistische Ideologie des selbsternannten Islamischen Staates (IS) habe ihre Profiteure hervorgebracht und es gebe tausende IS-Mitglieder im Untergrund, die auf einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung setzten, um wieder die Macht zu ergreifen. Mit Widerstand der Übergangsregierung sei in diesem Fall nicht zu rechnen, da diese noch immer eine starke Affinität zu ihrer dschihadistischen Vergangenheit habe. Die Morde an Alawit:innen und Drus:innen in der letzten Zeit seien ein alarmierender Beleg dafür.

Die neue Regierung in Damaskus lehne ein föderales System ab, das doch am besten für einen multiethnischen Staat geeignet sei.

Birgit Koch-Dallendörfer betonte, dass sich die sozialen und ökonomischen Bedingungen verbessern müssten, um dem IS seine Grundlage zu entziehen. Dazu könne auch die Arbeit der Solidaritätsgruppen in Deutschland beitragen.

Auswirkungen des Friedensprozesses mit der Türkei auf kurdische Gebiete?

Michael Wilk, der in der Vergangenheit zu etlichen Einsätzen in der Region war, war jüngst im April mit einem ARD-Filmteam („Erdogans Kampf gegen die Kurden“) und der deutschen Hilfsorganisation Friedensdorf international nach Rojava gereist. Er berichtete, dass es bei seinem Besuch des zerstörten Wasserwerkes von Kobanê, für dessen Wiederaufbau die Städtefreundschaft Frankfurt-Kobanê Geld gesammelt hat, in der Nähe zu einer „heiklen Situation“ gekommen sei. Dennoch habe sich die Situation bezüglich militärischer Angriffe der Türkei und ihrer Söldner der „Syrischen Nationalarmee“ (SNA) seit zwei Monaten vergleichsweise beruhigt.

Die Organisation Friedensdorf international hilft verletzten und kranken Kindern aus Kriegs- und Krisengebieten durch medizinische Behandlungen in Europa, wenn zum Beispiel Kinder mit schwersten Brandverletzungen vor Ort nicht behandelt werden können. Sie plane eine enge Kooperation mit der regionalen Hilfsorganisation Heyva Sor a Kurdistanê (Kurdischer Roter Halbmond).

Internationales Engagement

Auf die Frage aus dem Publikum, was hier getan werden könne, ergänzte Michael Wilk: „Die Musik spielt hier, nicht in Rojava. Wir müssen hier antifaschistische Arbeit leisten, Verantwortung übernehmen gegenüber den Menschen hier und wir müssen genau bleiben, denn wir brauchen eine korrekte Analyse der Bedingungen.“ Als Beispiel, ebenfalls bezüglich des Nahen Ostens, erläuterte er, dass Menschen, die die ultrarechte israelische Regierung kritisieren, nicht zwingend antisemitisch seien. Gleichzeitig dürfe das Massaker vom 7. Oktober nicht vergessen werden. „Wie kann man eine islamistische Organisation wie die Hamas, die Hisbollah oder das iranische Regime positiv besetzen?“ Mit solchen Kräften dürfe man sich nicht gemein machen, sagte er unter Beifall der Anwesenden.

Gesellschaftliche Atmosphäre

Auf die Frage nach der Stimmung in der Bevölkerung in den besuchten Gebieten entgegneten die Referent:innen einhellig, dass die Antwort davon abhänge, wer gefragt werde. Ein Teil der Menschen sei verunsichert und kriegsmüde, nicht wenige wollten das Land verlassen. Es gebe aber auch viel Hoffnung. Vor allem junge Kurd:innen wollten nicht in das alte patriarchale System zurück. Wilk habe so etwas wie eine „emanzipative Eigendynamik“ beobachtet.

Die Bereitschaft der Menschen, sich konkret für die Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen einzusetzen, sei allgemein hoch. Zu dieser könnten auch Solidaritätsgruppen und -Vereine in Deutschland beitragen: In ihrem Vortrag verwies Koch-Dallendörfer darauf, wie sich die Möglichkeiten der öffentlichen finanziellen Förderung für Rojava seit 2022 kontinuierlich verbessert hätten. Nachdem zunächst nur regimefeindliche Kräfte in Idlib unterstützt worden seien, war die GIZ zuletzt sogar auf den Verband kurdischer Ärzte zugegangen, um Kontakte nach Rojava anzubahnen, die nun in der ersten Klinikpartnerschaft gemündet seien.

Vielfältige Diskussion

In der weiterhin lebhaften Diskussion wurde neben der Frage nach Unterstützungsmöglichkeiten auch erörtert, ob eine Entwaffnung der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) denkbar sei, welche Kooperationen zwischen DAANES, Drus:innen und Alawit:innen existieren, und wie sich die Aufhebung der internationalen Sanktionen gegen Syrien auf Rojava auswirken kann, die das Publikum als außergewöhnlich schnell beschlossen wahrgenommen hat.

Aus Perspektive internationaler Solidarität und humanitärer Hilfe sei es beispielsweise wünschenswert, wenn Rojava wieder an das internationale Bankensystem angeschlossen würde. Die persönliche Mitnahme von Geldkoffern zur Finanzierung von humanitären Projekten könnte somit endliche der Vergangenheit angehören.

 

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