Alevitische Verbände fordern Mitsprache im Friedensprozess
Beim Munzur-Festival in Dersim diskutierten Vertreter:innen alevitischer Organisationen über staatliche Assimilationspolitik, religiöse Gleichstellung und die Rolle der Alevit:innen in einem möglichen demokratischen Umbau der Türkei.
Im Rahmen des 23. Kultur- und Naturfestivals Munzur ist in Dersim am dritten Festivaltag ein Panel unter dem Titel „Alevitentum, Assimilation und Formen des Widerstands“ veranstaltet worden. Die Diskussion fand im zentralen Künstlerviertel statt und versammelte Vertreter:innen alevitischer Kulturvereine sowie zahlreiche Teilnehmer:innen aus der Region.
Zu den Sprecher:innen gehörten Seher Şengünlü Yılmaz, Vorsitzende des Alevitischen Kulturvereins (AKD), Cuma Erçe von der Kulturvereinigung Pir Sultan Abdal (PSAKD) und Hüseyin Mat, Vorsitzender der Konföderation der Alevitischen Vereinigungen Europas (AABK) und der Alevitischen Gemeinde Deutschlands. Moderiert wurde das Panel von Özkan Tacar von der Föderation der sozialistischen Räte (SMF).
Kritik an staatlicher Steuerung und religiöser Vereinnahmung
Seher Şengünlü Yılmaz warnte in ihrem Beitrag vor zunehmender institutioneller Einflussnahme auf das alevitische Leben – insbesondere durch die im Kultur- und Tourismusministerium angesiedelte „Behörde für Alevitische-Bektaschi-Kultur und Cemhäuser“. Diese versuche, Alevitentum auf eine „staatlich akzeptierte“ Form zu reduzieren. „Mit dieser Struktur will man einen standardisierten, anpassungsfähigen Aleviten erziehen“, so Yılmaz. Sie sprach von aktiver Assimilationspolitik unter Nutzung staatlicher Ressourcen.

Sie kritisierte außerdem die fehlende Anerkennung von Cemhäusern als offizielle Gebetshäuser und forderte eine verfassungsrechtlich gesicherte Gleichstellung. „In der Türkei gibt es tausende Cemhäuser, aber keines hat rechtlichen Status. Es ist eine Scheinlösung, eine Behörde für eine Religion zu schaffen, die man offiziell gar nicht anerkennt“, sagte sie. Der aktuelle Friedensprozess müsse genutzt werden, um eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Identitätsfragen anzustoßen, so Yılmaz weiter.
Gemeinsamer Widerstand und Selbstkritik
Auch Cuma Erçe kritisierte die Einrichtung der genannten Behörde als Mittel zur Kontrolle und Vereinnahmung. „Der Staat will eine gläubige, gehorsame Generation nach seinen Vorstellungen formen“, sagte er. Dagegen setzten die Alevit:innen auf Selbstorganisation und gemeinschaftlichen Widerstand. Er forderte eine verstärkte Zusammenarbeit mit anderen marginalisierten Gruppen in der Türkei.
Zugleich warb Erçe für eine kritische Selbstreflexion innerhalb der alevitischen Bewegung. Institutionen mit alevitischer Außendarstellung seien nicht automatisch frei von innerer Anpassung: „Auch wir müssen uns schütteln und aus interner Assimilation befreien. Der gemeinsame Kampf ist unsere einzige Option.“
Verantwortung übernehmen, Mitspracherecht einfordern
Hüseyin Mat betonte, dass Alevit:innen und Alawit:innen in Ländern wie der Türkei, Syrien, Irak und Iran trotz kultureller Unterschiede mit vergleichbaren Ausgrenzungserfahrungen konfrontiert seien. „Gleichberechtigung existiert für uns nirgendwo wirklich. Der Staat drängt uns an den Rand, unsere Sprache verschwindet, unser Glaube wird ignoriert.“
Mat rief dazu auf, nicht nur zu kritisieren, sondern aktiv Verantwortung im politischen Prozess zu übernehmen – insbesondere im Kontext des aktuellen Dialogs zur Demokratisierung und Friedenspolitik in der Türkei. Bezugnehmend auf den von Abdullah Öcalan im Februar verfassten „Aufruf zu Frieden und demokratischer Gesellschaft“ sagte Mat: „Alevit:innen wollen in diesem Prozess nicht Zuschauende sein, sondern Akteur:innen. Sie wollen am Verhandlungstisch mit ihrer eigenen Stimme vertreten sein.“
Ein demokratischer Umbau der Türkei könne nicht nur von Amed (tr. Diyarbakır) aus gedacht werden, betonte Mat: „Auch Dersim muss ein Ort des politischen Wandels sein. Ohne gemeinsame Basis kann es keinen echten Frieden geben.“
Weitere Panels in Dersim
Das Panel endete mit einer offenen Fragerunde. Das Festival wird mit weiteren Veranstaltungen fortgesetzt, darunter ein Panel zu politischen Repressionen und Entlassungen im öffentlichen Dienst.
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