Direkt zum Hauptbereich

„Die Rathäuser gehören dem Volk, wir lassen sie nicht usurpieren“

 


„Die Rathäuser gehören dem Volk, wir lassen sie nicht usurpieren“ lautete das Motto einer Großkundgebung in Colemêrg. Zehntausende nahmen teil und stellten klar: Der Kampf gegen die Zwangsverwaltung geht weiter.


Mit einem Sternmarsch, einer Kundgebung und einem anschließenden Demonstrationszug setzte ein breites Bündnis politischer Parteien und zivilgesellschaftlicher Organisationen am Donnerstag in Colemêrg (tr. Hakkari) ein starkes Zeichen gegen die Zwangsverwaltung. „Die Rathäuser gehören dem Volk, wir lassen sie nicht usurpieren“ lautete das Motto der Veranstaltung, zu der zehntausende Menschen in die kurdische Provinz strömten – viele von ihnen auch aus umliegenden Städten sowie aus dem Westen des Landes. Hintergrund ist die Übernahme des Rathauses von Colemêrg durch einen vom türkischen Innenministerium ernannten Treuhänder. Der rechtmäßige Bürgermeister Mehmet Sıddık Akış, der bei der Kommunalwahl im März für die DEM ins Rennen gegangen war und trotz massiver Betrugsversuche und des Einsatzes tausender Soldaten als „Geisterwähler“ mit fast 49 Prozent der Stimmen gewählt wurde, ist wegen Terrorverdachts des Amtes enthoben und aufgrund selbiger Vorwürfe zu knapp 20 Jahren Haft verurteilt worden. Seine Partei spricht von einem „Putsch gegen den Wählerwillen“ und fordert die Rücknahme der Entscheidung.

Tanzende Demonstrantinnen (c) MA

Das forderten auch die zahlreichen Menschen, die dem Aufruf der DEM sowie allen anderen Parteien des Bündnisses für Arbeit und Freiheit, der Graswurzelbewegung „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (KCD), der Bewegung freier Frauen (TJA) sowie Gewerkschaften und verschiedenen NGOs aufgerufen hatten. An vier verschiedenen Orten und sternförmig um das Stadtzentrum verteilt, starteten die verschiedenen Gruppen am späten Nachmittag in Richtung Busbahnhof im Viertel Tekser. Mit ihren weißen Kopftüchern, als Symbol gegen Krieg, stachen besonders die Aktivistinnen der kurdischen Initiative der „Friedensmütter“ ins Auge. Sie waren von der Kontrollstelle Depin am Eingang von Colemêrg gestartet – die zu den am intensivsten militarisierten Gegenden in der Provinz gehört. Ihnen galt auch ein starker Beifall zahlreicher Parteivorsitzender, Abgeordneter und den Spitzen von Organisationen und Parteien wie SODAP, TIP, SMF, DP, Partizan, TÖP, YSP und KESK.

„Hakkari gehört uns“ (c) MA

Auf dem Kundgebungsplatz wurde sodann gesungen und getanzt, bevor das eigentliche Bühnenprogramm startete. In ihren Ansprachen machten die Rednerinnen und Redner deutlich, dass eine Kapitulation nicht in Frage komme und der Widerstand gegen das „Treuhänderregime“ fortgesetzt werde, bis das Rathaus in Colemêrg von denjenigen regiert wird, die den Auftrag dazu vom Volk erhalten haben. „Wir erkennen keinen Willen an, der über dem Willen des Volkes steht“, sagte die kürzlich vom Stadtrat als stellvertretende Bürgermeisterin bestellte Politikerin Viyan Tekçe.

Tülay Hatimoğulları von der Doppelspitze der DEM (c) MA

Die DEM-Vorsitzende Tülay Hatimoğulları beschrieb den Kampf um lokale Selbstverwaltung als „legitimen Widerstand eines entrechteten Volkes“ gegen eine politische Mentalität, die immer wieder offenbare, dass sie nicht gewillt sei, von ihrem „antikurdischen Vernichtungsfeldzug“ abzukommen. „Wir kämpfen gegen eine mörderische Politik, die Kurdinnen und Kurden nicht als Menschen ansieht und ihnen grundlegende Rechte verweigert. Diese Politik wird betrieben von einem Präsidenten und dessen Verbündeten, die die Justiz und Macht als Waffe für sich nutzen und keinen Hehl daraus machen, wenn sie sich zugunsten der Paläste über das Recht stellen“, sagte Hatimoğulları, die selbst arabischstämmig ist.

„Wir sind nicht schwach, im Gegenteil. Wir kämpfen seit 100 Jahren gegen diese Mentalität. Wir haben Millionen von Freundinnen und Freunden, die unseren legitimen Widerstand unterstützen. Wir glauben an unser Volk und an unseren Kampf. Es sind die Herrschenden, die in Schwierigkeiten stecken, nicht wir. Unser Volk entwickelt seinen Kampf auf allen Gebieten, und niemand kann das verhindern. Heute haben wir Millionen von Genossinnen und Genossen in der ganzen Welt. Wir werden alle unsere Städte verteidigen. Colemêrg ist niemals allein. Wir werden uns das Rathaus zurückholen.“ – Aus der Rede von Keskin Bayındır, Ko-Vorsitzender der DBP. (c) MA


Sinan Çiftyürek, der Vorsitzender der Kommunistischen Partei Kurdistans (KKP) ist, erklärte, die kurdischen Provinzen der Türkei stellten eine Region dar, die vom Militär durchzogen und mit Kolonialrecht verwaltet werde. Die Einsetzung eines Zwangsverwalters in Colemêrg bezeichnete der Politiker als einen „Staatsstreich“. „Im Westen akzeptieren sie den Wählerwillen, im Osten zerschlagen sie ihn. Mit der AKP und MHP an der Macht kann eine Demokratisierung der Türkei nicht erreicht werden. Dies gilt auch für eine Lösung der kurdischen Frage.“ Nur wenn die autoritäre und rassistische Mentalität der Herrschenden in Ankara durchbrochen werde und die Zeit eines Regimes vorbei sei, „das die gesamte Bevölkerung einschüchtert, das ganze Land in ein offenes Gefängnis verwandelt, das das Einräumen der elementaren Rechte des kurdischen Volkes als ein Zugeständnis begreift, die kurdische Frage als Sicherheitsfrage versteht und den legitimen Widerstand gegen die Unterdrückung und lokale Selbstverwaltung als „Terrorismus“ diskreditiert“, erst dann werde die kurdische Bevölkerung darüber nachdenken, den Widerstand beiseite zu legen. „Aber solange uns nicht der notwendige Respekt entgegengebracht wird, solange wir als das Eigentum anderer angesehen werden, geht der Kampf weiter.“

Sogar aus Antalya gab es Anreisen nach Colemêrg, wie das Pappschild des DEM-Verbands von der türkischen Südküste zeigte (c) MA

Nach weiteren Reden mündete die Kundgebung in eine kämpferische Demonstration zurück in die Stadtmitte. Die Veranstalter:innen kündigten an, dass die Proteste gegen die Zwangsverwaltung weitergehen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Iran: Onkel von Jina Mahsa Amini zu Haftstrafe verurteilt

Aleppo: Männer demonstrieren gegen Gewalt an Frauen

medico international: Gezielte Tötung