„Die Türkei hat den Krieg gegen uns bereits eröffnet!“


Vergangene Woche meldet sich unser langjähriger Partner Diyar von PÊL per Nachricht: Seine Cousine Hivi wurde bei einem türkischen Angriff auf Nordost-Syrien getötet. Sie war erst 18 Jahre alt. Diyar bittet uns eindringlich um ein Gespräch, denn er möchte mitteilen, was ihm, seiner Familie und den Menschen in Nordost-Syrien derzeit widerfährt.

Unser Partner Diyar im PEL-Zentrum. Er muss derzeit den Tod seiner jungen Cousine verkraften, die ihm sehr nahe stand. Wie ihm geht es unzähligen Menschen im Nordosten Syriens. Denn die Türkei führt hier inoffiziell bereits einen Krieg.

Wir erreichen Diyar direkt am nächsten Abend. Für das Video-Gespräch ist er etwas länger im PÊL Civil Waves Zentrum geblieben, in dem er arbeitet. Er wirkt erschöpft und übernächtigt, trotzdem sprudeln die Worte nur so aus ihm hinaus. Sein Mitteilungsbedürfnis ist groß, seine Trauer ebenso. Seine Cousine Hivi stand ihm sehr nahe, der Schock über ihren Verlust steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er erzählt uns von einem Krieg, der in Europa als ausgesetzt gilt, hier aber schon lange begonnen hat und seine Opfer fordert. Während des Gesprächs raucht er eine Zigarette nach der anderen. Das gibt ihm Halt.


„Die Dörfer an der Grenze zur Türkei sind menschenleer. Von jeder Familie bleibt – wenn überhaupt – nur eine Person zurück, um Plünderungen zu verhindern. Leben gibt es nur noch in den größeren Städten drumherum, wie beispielsweise in Derik, Darbasiye oder Kobane. Deshalb wurde der Leichnam meiner Cousine erst zwei Tage nach dem Angriff gefunden.

Die Menschen fliehen in Richtung der größeren Städte wie Derik oder Qamishli. Derzeit können die Städte die Geflüchteten noch aufnehmen, aber sobald sie selbst fliehen müssen, werden viele Menschen auf den Straßen und in den Schulen schlafen müssen.

Hivi wurde 2004 in Tirbespî (Qahtaniyya) geboren. Mit gerade mal 18 Jahren starb sie hier in der vergangenen Woche bei einem türkischen Angriff. Ihr Leichnam wurde erst zwei Tage später gefunden.

Es zeigt, dass gegen uns bereits ein Krieg läuft, auch wenn er uns bisher nicht offiziell erklärt wurden. Wir sind in einem Zustand der Depression: Nahezu pausenlos werden wir beschossen – von Raketen, vor allem aber durch türkische Drohnen.

Ich geriet vor kurzem sogar nachts um eins in Tirbespî (Qahtaniyya) unter Beschuss. Die türkischen Drohnen sind besonders schlimm, weil sie so leise sind so plötzlich aus dem Nichts auftauchen, dass du keine Chance zur Flucht hast. Ehe du dich versiehst, wird auf dich geschossen. Das Leben hier ist wie russisches Roulette, nur eben auf Türkisch. Das beeinflusst unser Leben massiv. Ich versuche mich so in der Stadt zu bewegen, dass ich an keinem Militärstützpunkt oder Checkpoint vorbeikomme, weil Angriffe auf diese am wahrscheinlichsten sind. Das ist aber gar nicht so einfach und erfordert eine systematische Routenplanung für die kürzesten Wege, weil an jeder zweiten Ecke ein Checkpoint in dieser Stadt ist.

Wir wissen genau, wie wir uns im Krieg zu verhalten haben. Im Krieg gehen wir nicht auf die Straße. Im Krieg horten wir Lebensmittel zu Hause. Im Krieg werden alle militärischen Einheiten aus den Städten abgezogen, um die Bevölkerung vor Angriffen zu schützen. Aber derzeit arbeiten alle normal weiter, als wäre kein Krieg, selbst die Institutionen der Selbstverwaltung. Es gibt auch kein Ausgeh- oder Bewegungsverbot. Dabei ist es egal, ob wir die derzeitige Situation Krieg nennen oder nicht: de facto leben wir in kriegsähnlichen Zuständen und Menschen sterben!“


Diyars Redefluss wird kurz vom Klingelton seines Handys unterbrochen. Weil Diyar noch nicht wie sonst zu Hause angekommen ist, macht sich seine Familie Sorgen, ob ihm etwas zugestoßen ist. Nachdem er sie beruhigt hat, wimmelt er sie wieder ab. Er möchte noch etwas erzählen.


„Die Türkei beschießt auch eigene Dörfer auf der türkischen Seite der Grenze. Ich halte das nicht für Irrläufer, sondern für Kalkül.“

„Wir leben in einem kalten Krieg, in dem durchschnittlich 20 Personen pro Tag sterben. Wir haben Verwandte, die auf der anderen Seite der Grenze in der Türkei leben. Aber auch sie sind in den letzten Tagen geflohen. Das hat zwei Gründe: Zum einen werden diese Dörfer immer wieder von Irrläufern getroffen, die eigentlich auf syrischer Seite einschlagen sollten. Ich glaube aber, dass das Kalkül ist, denn wenn auch diese Dörfer verlassen sind, kann uns die Türkei leichter angreifen. Zum anderen reagiert die SDF auf türkischen Beschuss mit Gegenangriffen, sodass diese Dörfer dauerhaft im Kreuzfeuer stehen. Es ist ein Dilemma. 

Auch hier in Qamishli haben die meisten ihre Taschen längst gepackt. Auch ich. Alle meine Zeugnisse und ein bisschen Geld liegen bereit. Wir wissen genau, dass es jeder Zeit losgehen kann. Wir wissen, was auf uns wartet, wenn die Türkei einmarschiert. In Afrin wurden beispielsweise willkürlich Zivilist*innen beschossen und ermordet. Deshalb macht es keinen Sinn zu bleiben.”


Wir kennen die Situation im Nordosten Syriens sehr gut. Wir sind oft mit unseren Partner*innen im Austausch. Diese arbeiten trotz der Aussichten unermüdlich und den Umständen zum Trotz mit einer gehörigen Portion Zuversicht. Dazu gehört auch Diyar. Durch den Tod seiner Cousine ist er aber sehr angegriffen. Wir möchten von ihm wissen, was er sich für die Zukunft wünscht. Daraufhin lacht er und hört ungefähr eine Minute lang nicht auf.


“Ich hatte eigentlich gerade die letzte Kippe für heute geraucht, aber nach so einer Frage muss ich mir doch noch mal eine anzünden.

Die USA haben für diese Region eine Verantwortung übernommen, der sie nicht gerecht werden. Sie ruhen sich darauf aus, dass aufgrund ihrer Militärbasis in Derik diese Stadt nicht angegriffen wird. Es werden aber die Dörfer um Derik herum beschossen.

Ich wünsche mir klare Entscheidungen. In der ständigen Angst vor türkischen Angriffen zu leben, geht nicht mehr.

Die Türkei wird gewinnen, wenn sie niemand stoppt. Aber die SDF kann ihr realistisch nichts entgegensetzen. Eine Option wäre, dass das Regime hierher zurückkommt und die Selbstverwaltung entsprechend Kompromisse eingeht. Ich und viele andere Aktivist*innen könnten dann zwar nicht länger bleiben, weil wir für unsere friedliche zivilgesellschaftliche Arbeit vom Regime als „Terroristen“ gesucht und verfolgt würden. Aber dann gäbe es immerhin Klarheit. Der derzeitige Limbo ist unerträglich.

Wenn es um eine Utopie geht, die ich mir wünschen kann: Ich möchte, dass die Selbstverwaltung ernst genommen wird. Ich arbeite und studiere an der Uni Rojava auf Kurdisch. Ich will, dass mein Abschluss etwas wert ist. Dafür braucht es die Anerkennung der Selbstverwaltung. Dafür müssen wir die Weltgemeinschaft gewinnen und dabei brauchen wir auch eure Unterstützung. Es geht um alles oder nichts! Ich möchte endlich wissen, wie meine Zukunft aussieh

 

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