Nichts weniger als die Pariser Commune

|Thema in ak 667: 10 Jahre Aufstand


Mit Beginn der Revolution in Syrien gab es eine Rätebewegung im Land – auch jenseits von Rojava

Von Almut Woller

Was Omar Aziz ausformulierte, wurde vielerorts in Syrien ausprobiert, wie hier (rechts) im Jahr 2014 in einer Suppenküche in Darayya. Foto: Darayya Council

Viele Linke wissen (halbwegs) Bescheid darüber, dass Kurd*innen in Nordsyrien ein revolutionäres Projekt in Gang gebracht haben. Das ist bedeutsam für die Menschen vor Ort, und es ist bedeutsam für Menschen überall, die sich für Utopien und Alternativen zum Staat interessieren. Verhältnismäßig wenige Linke wissen, dass es in Syrien parallel dazu einen weiteren Versuch von (anarchistischer) Selbstorganisation gab: die Bildung lokaler Räte. Diese Bewegung steht im Schatten des kurdischen Projektes, dabei verdient sie nicht nur unsere linke revolutionäre Neugier, sondern vielleicht sogar einen Platz in der anarchistischen Geschichtsschreibung. Ungefähr so: von der Pariser Commune (1871) über Russland (1917), Deutschland (1918), Spanien (1936), Chiapas (1994) nach Syrien (2011-2013). So sah es zumindest Omar Aziz, Vordenker der syrischen Rätebewegung und 2013 in der Haft verstorbener Aktivist, als er sagte: »Wir sind nichts weniger als die Pariser Commune: Sie hielten 70 Tage durch und wir machen nach eineinhalb Jahren immer noch weiter.«

Im März 2011 ging es los mit dem, was die Syrische Revolution werden sollte. In den folgenden Monaten passierten Dinge, die von den meisten Syrer*innen für unmöglich gehalten worden waren. Hunderte lokale Koordinationskomitees entstanden. Sie organisierten Proteste, dokumentierten alles, teilten es mit der Welt und vernetzten sich über das ganze Land. Es war eine spontane Basisorganisierung, die das Regime das Fürchten lehrte: Menschen entwickelten Handlungsfähigkeit in einem Kontext von jahrzehntelang erlernter Ohnmacht. Mehr noch: Sie entwickelten kollektive Handlungsfähigkeit im Kontext eines »erstickenden Individualismus« (Aziz), den der Staat seine Untertan*innen über ein halbes Jahrhundert gelehrt hatte.

Neue Räume für neue Beziehungsweisen

Etwa sechs Monate gingen ins Land, bis sich herauskristallisierte: Diese Revolution wird komplizierter als jene in Tunesien und Ägypten. Nachdem Communities gezwungenermaßen zu den Waffen griffen – nicht um Territorium zu gewinnen, sondern um das Weitergehen der Revolution zu ermöglichen und sich zu schützen –, nachdem klar geworden war, dass von der alteingesessenen Opposition nichts zu erwarten war, und zu einer Zeit, als die Islamisten noch keine organisierte Macht darstellten, begannen einige in Syrien zu überlegen, wie sie die kommende Zeit nicht nur überleben, sondern die Revolution retten könnten.

Einer von ihnen war Omar Aziz, Anfang 60, studierter und weitgereister Ingenieur mit einer Leidenschaft für Schriften von Spinoza, Hardt & Negri, Deleuze, Benjamin, Agamben und Luxemburg. Aziz brachte unter Aktivist*innen einen Text in Umlauf mit dem klaren Vorschlag: Bildet lokale Räte! Er unterbreitete eine Reihe ganz praktischer Vorschläge, was diese neuen »sozialen Formationen« tun sollten: Zum Beispiel die Schulen am Laufen halten, medizinische Versorgung garantieren, Leuten aus den Trümmern helfen, Koordination mit bewaffneten Gruppen leisten, die Versorgung mit allem Notwendigen organisieren, sich den vielfachen Enteignungen durch den Staat widersetzen und sich dem wachsenden psychischen Leiden widmen. Wichtiger aber als das, was die Räte tun sollten, war das Wie. Denn im Grunde ging es Aziz darum, soziale Räume zu schaffen, in denen Menschen über alle Schranken hinweg neue Beziehungsweisen erfahren könnten: Ich, du und ich, wir gemeinsam, nehmen die Kontrolle über unser Leben in die eigenen Hände, jenseits von Staat und Parteien. Selbstorganisiert und ohne auf eine Führungsfigur zu warten. Wenn man seinen Text liest, ohne Spinoza, Benjamin, Luxemburg und die anderen Denker*innen zu kennen, entgeht einem möglicherweise die intellektuelle Fundierung der Gedanken, weil dieser Text so pragmatisch und auf schöne Weise bescheiden geschrieben ist. Trotzdem lassen sich die grundlegenden Prinzipien klar erkennen: Bleibt an der Basis. Konzentriert euch auf das, was möglich ist. Holt jede*n ins Boot. Habt Vertrauen in die Menschen – Aziz sprach immer von dem Menschen, nie vom Volk – und in den Prozess. Und opfert niemals Individuen und ihre Sorgen für die Revolution.

Ein halbes Jahr nach Beginn der Revolution, und angesichts der zunehmenden Macht der Waffen sah Aziz ein grundlegendes Problem, das eine revolutionäre Organisierung lösen musste, die über die erste, spontane Organisierung hinausgeht: Das alltägliche Leben lief weiterhin im organisatorischen Rahmen des Staates ab – das nannte Aziz »die Zeit der Autorität«. Damit die Revolution Erfolg haben könnte, müsste das alltägliche Leben aber in die »revolutionäre Zeit« integriert werden. Seit Beginn der Revolution gingen die Menschen tagsüber und wochentags ihren Geschäften nach: Kinder gingen in die Schulen des Regimes, die Menschen mussten ihr Geld nicht selten als Staatsbeamt*innen verdienen, und alle waren angewiesen auf die öffentliche Daseinsvorsorge, die das Regime bereitstelle (medizinische Versorgung, Sozialleistungen, Müllentsorgung etc.). Am Abend oder am Wochenende, wenn sie den Widerstand organisierten, lebten die Menschen dann in der »revolutionären Zeit«.

Aziz betrachtete das als eine Art tägliche Arbeitsteilung. Die Revolution könne aber nur weiterlaufen, wenn ihr eine Verschmelzung von alltäglichem Leben und Revolution gelänge, das sei der Schlüssel. Der praktische Weg führte über Selbstorganisierung auf der Basis absoluter Freiwilligkeit und direkter Aktion. Und dafür waren die lokalen Räte gedacht. So könnten aus der gemeinsamen, kooperativen Organisierung des Lebensnotwendigen erstens neue Beziehungsweisen und zweitens kollektive Autonomie entstehen – »der Stoff, aus dem Freiheit gemacht ist«.

Und tatsächlich: Aziz‘ Freund Sami Al-Kayyal erinnert sich, dass »im Laufe des ersten Jahres die Menschen auf fantastische, wirklich fantastische Weise in der Lage waren, die anstehenden Aufgaben zu bewältigen«. Nicht nur, dass sie das alltägliche Leben rein praktisch und technisch am Laufen hielten – sie wuchsen dadurch individuell über sich hinaus, erlebten Handlungsmacht und begannen, durch die Erfahrungen von Gemeinschaftlichkeit Misstrauen und identitäre Borniertheit aufzuweichen. Das Regime fürchtete diese neuen Beziehungsweisen, es fürchtete Pluralismus und neue Verbindungen zwischen den Menschen, die nicht auf den etablierten patriarchalen und autoritären Strukturen beruhten, es fürchtete das Aufweichen von starren religiösen Identitäten, die doch eine wesentliche Grundlage seines Machterhalts waren: Sunnit*innen gegen Alawit*innen gegen Christ*innen etc. Was am wenigsten gelang, und das wog schwer, war allerdings die regionale Vernetzung der Räte von unten, weil das Regime von Beginn an auf Isolierung und Belagerung setzte.

Verheerende Dynamiken

Ab Januar 2012 sollten sich hunderte lokale Räte bilden, in jedem Winkel Syriens. Einige wussten von Aziz‘ Ideen oder zumindest von seinem Text, der heimlich zirkulierte und erst 2013, einen Tag nach seinem Tod in Gefangenschaft, veröffentlicht wurde. Aziz selbst brachte sich bis zu seiner Verhaftung im November 2012 unermüdlich in mehreren lokalen Räten ein. Andere Räte, sicherlich die große Mehrzahl, entstanden in Unkenntnis von Aziz‘ Text und ohne Bewusstsein über den anarchistischen Charakter dessen, was sie da taten. Aziz selbst war es nicht wichtig, mit einem Label wie Anarchismus hausieren zu gehen, was für ihn zählte, war der Prozess.

Während der Hochphase der Selbstorganisierung gab es mehr als 800 lokale Räte. Das war im Jahr 2015, also drei Jahre nach dem Beginn dieses Experiments. In diesen drei Jahren war einiges passiert, das aus den anfangs meist horizontal und mehr oder minder basisdemokratischen Räte-Gebilden etwas gemacht hatte, das sich mit Leichtigkeit in eine neue »autoritäre Zeit« und Staatslogik integrieren ließ. Im Wesentlichen verwandelten sich viele – aber nicht alle – Räte nach ein, zwei Jahren von de facto anarchistischen Selbstorganisierungszellen in lokale Miniregierungen. Sozusagen von Räten in Kommunalverwaltungen. Verheerend waren dabei drei Dynamiken: Räte wurden von islamistischen Gruppen unterwandert oder überrannt, die Übergangsregierung im Exil vereinnahmte sie für ihr neues Staatsbildungsprojekt von oben und reduzierte sie auf Verwaltungsaufgaben, und Gelder internationaler NGOs zwangen die Räte, sich zu professionalisieren und zu entpolitisierten.

Und dennoch: Manche Räte verwirklichten lokale Selbstorganisierung trotz allem über Jahre hinweg. Das war ein praktischer Beweis von der Sehnsucht nach Leben und der Kreativität der Menschen, wie Aziz es formulierte. Die Syrische Revolution ist nicht irgendein gescheiterter Aufstand, sondern – neben aller Tragik – auch ein inspirierendes Erbe für Linke. Diese Revolution ist eine der unseren.

Almut Woller 

schreibt eine Dissertation über Anarchismus im Arabischen Frühling, insbesondere über die Räte in Syrien. Sie beschäftigt sich außerdem mit linkem Leben mit Kindern, Yoga und Kommunismus.

Omar Aziz: Authority’s time and revolutionary time, 2011 & 2012. Englische Übersetzung unter borderedbysilence.noblogs

 
https://www.indybay.org/uploads/2017/05/10/aziz.pdf

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