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Brief einer anarchistischen Internationalistin aus Rojava


„Wir werden nicht aufhören, alle müssen wissen, was hier vor sich geht. Und ich weiß, dass ich mich nicht für eure Solidarität bedanken sollte, denn die Solidarität ist ein Teil von uns, Teil des Kampfes.“ 


Compañeros, compañeras,
Ich glaube, dass es jetzt wichtig ist, dass unsere Stimmen von Rojava, aus dem Herzen dieses Kampfes, gehört werden. Ein Kampf um das Leben, um eine würdige Existenz, um eine echte Demokratie und um die Freiheit aller Frauen.
Ich möchte mitteilen, wie der Widerstand von Serêkaniyê ablief, wie der Anfang war, wie das Ende war und auch was zwischendurch geschah. Serêkaniyê befindet sich im Moment in den Händen von dschihadistischen Banden, die von der Türkei unterstützt werden, mit der Zustimmung der Vereinigten Staaten. An einem Punkt sagten sie, dass es eine fünftägige Waffenruhe geben würde... Wir glaubten es keine Sekunde. Und so war es auch - die Angriffe hörten nicht auf, vielleicht wurden sie reduziert, aber sie griffen uns weiterhin mit schwerer Artillerie, Bombardierungen und Flugzeugen an. Wenn es Bombardierungen gibt, gibt es sehr wenig, was getan werden kann; versteck dich hinter einem Baum und hoffe, dass sie dich nicht laufen gesehen, oder dass sie deinen Platz entdeckt haben.
Die fünf Tage des vermeintlichen Waffenstillstands waren für die Vereinigten Staaten und die Türkei tatsächlich entscheidend, um den Konflikt neu zu definieren, um die Situation von Krieg, Konfrontation und Widerstand gegen unseren erzwungenen Abzug, den niemand erwartet hatte, neu auszurichten. Niemand konnte es glauben, nach elf Tagen Widerstand, schön und sehr hart zugleich. Die Stadt verlassen. Die türkische Invasion von Serêkaniyê hatte einige Tage zuvor, am 8. Oktober, mit einer Bombardierung unserer Militärposten begonnen, die nicht beantwortet wurde, um nicht zu entfesseln, was später sowieso geschah. Es war ein Versuch der Freund*innen, die Bevölkerung und die Gesellschaft zu schützen. Aber am nächsten Tag, um 15-16 Uhr, gab es eine weitere Bombardierung eines der Posten von YPG, wo fünf Freunde fielen, und ab da an bombardierten sie die ganze Grenze.
Die ersten Tage waren sehr chaotisch. Wir versuchten einen klaren Kopf zu behalten und ruhig zu bleiben und uns auf die Invasion vorzubereiten. Ja, die letzten Monate der Vorbereitungen machten Sinn, es wurde Realität. Neben allen Ängsten zu realisieren, was der Krieg bedeutet, der Mut, sich einer getroffenen Entscheidung zu vergewissern und gleichzeitig sind da die Zweifel, dass alles zum Schweigen gebracht würde, dass niemand auf der Welt von dieser Barbarei erfahren würde.
Wenn der Krieg eintrifft, ist es ein entfernter Krieg, mit vielen unvorhersehbaren Bombardierungen, die man erst im letzten Moment hört. Wenn die Bomben fallen, fallen sie, wenn es passiert, dann passiert es. Nach Tagen lernt man, sie zu erkennen und gleichzeitig beginnen die Verwundeten einzutreffen, mit den Gefühlen, die sie in uns erwecken; Traurigkeit auf der einen Seite, weil die Kriegsmaschinerie monströs ist, und auf der anderen Seite die Kraft, auch für sie zu kämpfen.
Alle Verteidigungseinheiten, die bereits hier waren und die ankamen, als sich der türkische Angriff verschärfte, hielten die Stadt trotz der Bewegungen der dschihadistischen Banden sicher und ermöglichten die Überstellung der Verwundeten in die Stadt Til Temir. Bis die Türkei diese Straße abschnitt und es nicht mehr möglich war, sie dorthin zu bringen.
Das war sehr heftig für uns alle, weil wir ihnen nicht die nötige medizinische Versorgung geben konnten. Bei einigen von ihnen verschlechterte sich der Gesundheitszustand rapide und ein Freund ist beim Warten auf die Behandlung gestorben. Und mehr Wut erreichte unsere Herzen. Je mehr Angriffe kamen, umso größer wurde unser Mut. Gleichzeitig war uns bewusst, dass wir es mit der zweitgrößten Armee der NATO zu tun haben und wenn wir fallen, wer wird dann diese Geschichte von Barbarei und Widerstand erzählen? Wir schützten die Stadt, mit dem Gedanken, es mit allen Konsequenzen zu tun und niemand erwartete, dass wir die Stadt verließen, wie wir sie verließen. In unseren Gesprächen, in Momenten der Pause, waren wir alle entschlossen und überzeugt, dass Serêkaniyê uns gehört und auch bleiben würde. Für mich war es unglaublich, diese Freund*innen an meiner Seite zu haben, zu sehen, wie sie kämpfen, von ihnen zu lernen, denn ihr Kampf kommt aus dem Herzen und wenn sie verletzt wurden, wollten sie nur einen Verband, Medikamente und wieder an die Front. Diese Menschen kämpfen für das Leben. Weil sie glauben und dieser Glaube ist ein so starker Wert, dass ich ihn mit dieser Intensität noch nie zuvor gespürt habe.
Serêkaniyê hatte schon einmal Krieg gesehen und gerade deshalb war unser Rückzug vielleicht so hart.
Und jetzt sind wir in anderen Teilen, denn der Krieg ist noch nicht vorbei, es gibt viel zu verlieren und viel zu gewinnen. Es ist unsere Aufgabe, den Widerstand zu verteidigen, ihn öffentlich zu machen, weiter zu kämpfen, wie ihr alle es tut hier und dort. In Serêkaniyê hat bis heute niemand aufgehört, niemand hat sich hingesetzt, der Kampf und das Leben gehen weiter. Wir dürfen nicht vergessen, dass jeder Schritt ein Schritt nach vorne ist, für die Märtyrer, für die zerstörten Häuser, damit sie wieder schön werden, wie das Leben, das sie beherbergen. Als wir gingen, konnte ich vom Fenster aus die Stadt brennen sehen und ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, ich konnte die zerbombten Außenbezirke, die Ruinen nicht ertragen, aber wisst ihr was?
Wir werden sie zurückgewinnen und befreien und sie noch schöner, freier und ohne jede Spur von dieser Barbarei gestalten. Wir werden es für die vertriebenen Mütter und Mädchen, für die Märtyrer, für die tapferen Freund*innen, für diese Erde, die auch unter den Bomben Leben hervorbringt.  Wäre ich nicht an der Seite der Freund*innen gewesen, die seit vielen Jahren in der Bewegung hier sind, hätte ich nicht all den Mut und die Liebe zu dieser spüren können. Und ich denke, „wenn wir das hätten, nicht eine Miliz, nicht eine Armee, nur das, ein einfaches Gefühl.“ An diese Zukunft zu glauben, die wir uns vorstellen. Wir würden nichts anderes brauchen.
Als wir die Stadt mit dem Konvoi verließen, sahen wir die türkische Flagge, die bereits am Kontrollpunkt des Stadteingangs angebracht war, wir sahen die Gesichter unserer Feinde, die sich bis kurz zuvor in den Gebäuden versteckt hatten, um uns zu erschießen. Sie gingen auf die Straße, sammelten sich auf den Balkonen...
Wir werden nicht aufhören, und jede*r muss wissen, was hier vor sich geht. Und ich weiß, dass ich mich nicht für all eure Solidarität bedanken sollte, denn die Solidarität ist ein Teil von uns, Teil des Kampfes, aber ihr wisst nicht, was jedes Foto bedeutete, jeder Text, den ihr uns geschickt habt, alles, was wir sehen konnten, wie aus Tausenden von Orten Menschen zusammenkommen und für eine internationalistische Solidarität ihre Differenzen beiseitelegen. Ihr dürft nicht aufhören, denn das hier fängt gerade erst an.
Denn es ist nicht nur eine militärische Operation, sondern ein Versuch, eine Kultur, Ideen, einen Traum zu vernichten. Solange es nur einen Panzer oder nur einen türkischen Soldaten gibt, werden wir nicht aufhören, es kann Jahre dauern, aber wir werden es nicht zulassen, dass der Faschismus auch nur einen Schritt weiter geht. Wenn sie Rojava besiegen wollen, werden sie dem Hass der neuen Generationen begegnen, den sie selbst erzeugen, wenn nötig für Tausende von Generationen, die dem Widerstand folgen werden. Lasst uns nicht aufhören, hierherzuschauen, der Krieg ist nicht nur ein paar Monate des Konflikts, er ist etwas, das Konsequenzen hat, die nicht vergessen werden sollten.
Russland und die Truppen von Assad breiten sich auf dem Territorium aus. Der IS organisiert sich neu, insbesondere im Raum Til Temir und stellt eine ideologische und militärische Organisation wieder her, die nie ganz verschwunden war. Viele Familien, die von Serêkaniyêe nach Til Temir gegangen sind, sind nun wieder gezwungen, umzuziehen, nach Qamişlo oder sogar Başûr (Südkurdistan, Anm. d. Red). Der Krieg geht weiter, er ist noch nicht vorbei. Die Bedeutung eurer Unterstützung ist enorm, ich würde sagen, entscheidend, und nicht einmal so sehr in Bezug auf die Propaganda, sondern in der einfachen Tatsache, dass ich mich euch nah fühle, dass Gefühl zu haben, dass wir nicht allein sind, zu wissen, dass viele Menschen dahinterstehen. Die Solidarität gibt uns noch mehr Mut.
Unsere Moral ist hoch, wir werden all dies weiterhin verteidigen, auf Schritt und Tritt lernen, jeden einzelnen Freund und jede einzelne Freundin mit uns nehmen, in jedem Lächeln, in jedem Tropfen Schweiß, in jedem Moment der Einsamkeit oder Angst.
Es ist alles so schön und großartig, dass ich es nicht beschreiben kann.
Lasst uns vorwärts gehen, Freund*innen, hier machen wir weiter. Şehîd Namirin.

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