Nordsyrien am Siedepunkt: Assad und die Türkei rücken näher

 


Im Nordwesten Syriens greifen Demonstrierende türkische Checkpoints an und protestieren lautstark auf der Straße. Auslöser sind die rassistischen Übergriffe auf Syrer*innen in der Türkei. Das ist aber nicht der einzige Grund.


Sie wollen sich nicht einschüchtern lassen: Obwohl der türkische Geheimdienst und die von der Türkei finanzierten islamistischen Söldnergruppen gedroht hatten, versammelten sich viele bei der Beerdigung getöteter Demonstranten in Afrin.

Unsere Partner*innen im Kanton Afrin zu erreichen, ist in den vergangenen Tagen nicht immer einfach. Um Empfang zu haben, müssen sie in die Richtung der Regimegegend fahren, denn die Türkei hat das Internet abgeschaltet. Die Beschränkungen können als eine Art Strafe gelesen werden für die Proteste in Nordsyrien, insbesondere im türkisch besetzten Afrin und Azaz im Gouvernment Aleppo. Dort tragen Demonstrierende ihre Wut auf die rassistischen Übergriffe gegen Syrer*innen in der Türkei auf die Straßen. Sie protestieren auch gegen die fehlenden Schutzmaßnahmen der türkischen Behörden sowie die dramatisch steigende Zahl erzwungener Abschiebungen nach Syrien. Außerdem kritisieren  sie die jüngsten Annäherungen zwischen der Türkei und dem Assad-Regime. 

Die Angst und die Wut der Syrer*innen in Region sind nicht unbegründet. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte erst in der vergangenen Woche verlauten lassen, dass er bereit sei, diplomatische Beziehungen mit dem Assad-Regime wieder aufzunehmen. Zuvor hatte sich bereits der syrische Machthaber Baschar al-Assad entsprechend geäußert. Und auch der türkische Oppositionsführer und Parteivorsitzender der Republikanischen Volkspartei (CHP) Özgur Özel, bekundete jüngst seine Absicht, sich zeitnah mit Assad treffen zu wollen, um Abschiebungen syrischer Schutzsuchender voranzutreiben. Ein erstes Treffen zwischen türkischen und syrischen Vertretern im Irak soll laut Medienberichten kurz bevorstehen und die Annäherung der beiden Despoten einleiten.

Repression und tödliche Proteste

Diese könnte für die in der Region lebenden Syrer*innen gefährlich werden – der Norden Syriens steht weitestgehend nicht mehr unter der Kontrolle des Regimes. Viele Syrer*innen sind dorthin vor Assad geflohen. Das Regime könnte aber schon bald wieder gefährlich nah kommen. In der vergangenen Woche wurde ein Grenzübergang im Dorf Abu Al-Zandin, nördlich von Aleppo geöffnet, um den Handelsverkehr zwischen der Türkei und Syrien wieder aufzunehmen. Bereits am 11. Juni versuchte eine russische Delegation, über den Handelsübergang in die von der Türkei kontrollierten Gebiete zu gelangen, scheiterte jedoch an Protesten. Jetzt versuchen die Regimegegner*innen die weitere Annäherung und Zusammenarbeit zu verhindern.

Bei den jüngsten Protesten wurden vielerorts türkische Flaggen von Gebäuden gerissen, türkische Einrichtungen besetzt, Checkpoints mit Steinen beworfen und Lastwagen am Grenzübergang Abu Al-Zandin attackiert. Bei Zusammenstößen mit türkischen Soldaten starben bislang sieben Menschen, 43 wurden verletzt. Eine Beerdigung wurde von den von der Türkei finanzierten islamistischen Söldnergruppen und dem türkischen Geheimdienst unterbunden. Sie drängten auf die sofortige Bestattung – aus Sorge, dass aus dem Trauermarsch eine große Demonstration mit Ausschreitungen entstehen könnte. Doch die türkischen Maßnahmen greifen noch weiter: Internet und Strom wurden in  Afrin, Azaz, Alban und Maree gekappt. Mit der Schließung von Einrichtungen der türkischen Bank im Nordwesten Syriens können Hilfsorganisationen kein Geld mehr in die Region transferieren. Unsere Partner*innen vor Ort beschreiben die Lage als sehr angespannt. „Wir Syrer*innen fühlen uns wie ein Blatt im Wind. Wir fragen uns: Was sollen und  können wir tun? Wohin sollen wir noch gehen?”

Die zentralen Forderungen

Die Forderungen der Demonstrierenden und der syrischen Bevölkerung sind unmissverständlich: Sie lehnen die Normalisierung des Regimes und die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen durch die Türkei entschieden ab. Sie fordern die Schließung des Grenzübergangs und ein Ende der türkischen Besatzung. „Eine Zusammenarbeit mit der Türkei kann nur auf Augenhöhe und auf Basis gemeinsamer Interessen erfolgen, nicht durch eine völkerrechtswidrige Besatzung. Die Türkei darf sich nicht länger in die Arbeit revolutionärer und zivilgesellschaftlicher Arbeit einmischen. Es braucht eine Notstandsregierung für die kommenden sechs Monate mit dem Ziel, politische Vertretungen zu wählen und eine unabhängige Justiz aufzubauen“, erklärt unser Partner Amer vom Amber-Zentrum. Auch die Lebensbedingungen der Syrer*innen in der Türkei sind Thema bei den Demonstrationen. Sie fordern die Bildung eines Hohen Komitees, das den Umgang mit syrischen Geflüchteten in der Türkei überwacht.

Unser Partner Mohamed Shakerdy vom zivilen Zentrum Atareb nimmt auch die Europäische Union in die Pflicht: „Wir rufen die Europäische Union auf, Druck auf die Türkei auszuüben, um unseren Schwestern und Brüdern einen sicheren und dauerhaften Schutz im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewähren, statt weiterhin Syrer*innen aus Europa dorthin abzuschieben.“    

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