Afrin: Ein Leben wie in Sklaverei 

In der Nacht zu Newroz wurden mehrere Kurd*innen in Afrin von türkischen Milizen getötet. Im Interview erklärt Ferhad Ehmê von unserer Partnerorganisation PÊL den Hintergrund der Proteste und was die Menschen vor Ort jetzt fordern.

Unsere Partner*innen von PÊL in Qamishlo bei einer Solidaritätsdemonstration für die Todesopfer in Jenderis an Newroz.

Im Gespräch mit uns berichtet Ferhad Ehmê von unseren Partnern vom PÊL Civil Waves Zentrum über die Situation in Afrin nach den Morden an Newroz. PÊL dokumentieren seit 2022 auch in Afrin Verstöße gegen sogenannte HLP-Rights, Housing, Land and Property Rights.


In Afrin gab es im Nachgang von Newroz massive Proteste. Was war der Auslöser?

Newroz ist das kurdische Neujahrsfest, das am 21. März gefeiert wird. Als Fest der Wiedergeburt erlangte es zuerst bei den Kurd*innen Bedeutung, heute wird es auch beispielsweise von Afghan*innen, Perser*innen, Belutsch*innen und Tatschik*innen gefeiert.

Der Ursprung der Proteste liegt in einem tödlichen Überfall durch eine von der Türkei finanzierte syrische Miliz auf Zivilist*innen während Newroz. Eine Familie  aus Jenderis, deren Haus während der Erdbeben zum Teil eingestürzt ist, übernachtet wie viele andere auch seitdem in Zelten vor ihrem Haus. Wegen der Kälte machen sie regelmäßig Feuer, um sich zu wärmen. Als Zeichen für Newroz hat die Familie dann während der Feiertage zusätzlich ein kleines Feuer auf das Dach ihres zerstörten Hauses gestellt.

Das hat einem Mitglied einer Miliz nicht gefallen und die Familie zur Rede gestellt. Nach lautstarken Auseinandersetzungen hat der islamistische Söldner weitere Kollegen seiner Miliz dazugeholt, die mit Kalaschnikows bewaffnet waren und nach weiteren Wortgefechten das Feuer auf die Anwesenden eröffnet haben.  Zwei Personen waren sofort tot, drei weitere wurden schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht und sind dort ihren Verletzungen erlegen.

Vier der Getöteten gehören derselben Familie an, unter den Opfern ist auch ein Minderjähriger, der gerade mal 13 Jahre alt war. 

Was ist danach passiert?

Die Menschen in Afrin organisierten eine Woche lang Kundgebungen und Demonstrationen und haben klare Forderungen gestellt. Sie wollen beispielsweise, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden und dass sich die Milizen aus den bewohnten Gebieten zurückziehen. 

Das war eine große Überraschung für uns, denn Afrin war in den letzten fünf Jahren für uns alle eine Blackbox. Jetzt haben sich die Menschen zum ersten mal getraut, laut zu werden und davon berichtet, was sie in den letzten fünf Jahren erlebt haben. Nämlich ein Leben wie in der Sklaverei – das sind die Worte der getöteten Angehörigen und auch der Hunderten Menschen, die ihre Solidarität mit den Opferfamilien gezeigt haben und vor ihrem Haus eine Woche lang Wache gehalten haben.

Warum war die Reaktion der Milizen so brutal?

Es ist klar, dass der Miliz das Feiern von Newroz ein Dorn im Auge war. Es war ein Mord aufgrund der kurdischen Identität der Familie und Feiernden. Die Menschen haben sich in Sicherheit gewogen, weil aufgrund der Erdbeben jetzt internationale Organisationen da sind. Sie dachten, jetzt können sie es wagen, die kurdische Flagge zu zeigen, mit der Presse zu sprechen und eben auch Newroz zu feiern.

Und genau das hat viele Milizen wahrscheinlich in Alarmbereitschaft versetzt. Sie haben maximale Härte gezeigt, um die Kurd*innen zu warnen, nicht noch weiterzugehen und sich Freiheiten zurückzuerobern.. Ich gehe aber stark davon aus, dass die Morde weder geplant noch von oben befohlen wurden – aber das Klima des Hasses und der Gewalt gegen Kurd*innen ist bei diesen bewaffneten Gruppen inhärent vorhanden und sie fühlen sich von dem neuen Selbstbewusstsein der Kurd*innen nach dem Erdbeben bedroht.

Demonstration in Jenderis im Nachgang der Morde an Newroz.

Die Situation unter der Herrschaft der von der Türkei finanzierten syrischen Milizen ist ja nicht nur für Kurd*innen sehr schlecht, sondern für alle Menschen dort.

Absolut, aber die Milizen sagen auch klipp und klar an den Checkpoints, wenn du kurdisch bist, dann bist du per se verdächtig. Wenn du kurdisch bist, dann musst du damit rechnen, Schutzgelder zahlen zu müssen. Die Ehefrau eines der Todesopfer hat zu mir gesagt:

“Seitdem Afrin besetzt ist, habe ich alles getan, damit mein Mann fast nie in die Stadt Afrin kommt, weil ich weiß, er kann ohne Grund gedemütigt, entführt, gefoltert oder tagelang im Gefängnis festgehalten werden. Am Ende ist er vor unserem eigenen Haus erschossen worden.” 

Alle Vorsichtsmaßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen haben letztendlich nichts gebracht. Irgendwann kommt der Tod sogar direkt zu dir nach Hause. Das ist die Lebensrealität der kurdischen Bevölkerung hier.

Wie sieht denn die Situation in Afrin für die Leute im Alltag aus?

Die Menschen wissen zum Beispiel nicht, wohin sie sich wenden müssen, wenn ihre Ländereien oder ihr Haus beschlagnahmt werden. Sie wissen nicht, ob es überhaupt einen Weg gibt, eine Klage einzureichen und zu versuchen, irgendwas zurückzubekommen.

In Afrin, und zum Beispiel auch im ebenfalls türkisch besetzten Ras Al-Ain (Sere Kaniye) im Nordosten Syriens, sind  diese rassistischen Merkmale der Besatzung sehr, sehr deutlich zu sehen. Vor der Besatzung lebten in Ras Al-Ain (Sere Kaniye) über 35.000 Kurd*innen, heute sind es nach unserer Zählung nur noch circa 56. Hunderte haben versucht nochmal zurückzukehren. Sie sind aber alle gescheitert, weil sie dort einfach nicht mehr leben können. 

Die verbliebenen 56 Personen sind ältere Menschen über 70 Jahre, die für ihr Leben so oder so keine Perspektive mehr sehen. 

Der Rassismus, die Diskriminierung und Vertreibung sind keine Einzelhandlungen irgendwelcher bewaffneter Gruppen. Es ist eine Politik, die vielleicht nirgendwo festgeschrieben ist, aber sehr intelligent verfolgt wird. Und zwar so kohärent und systematisch, dass langfristig aus diesen Regionen andere Regionen gemacht werden, denn eine ethnische Gruppe wird gezielt aus ihren Gebieten vertrieben. Ich sehe darin sehr klar die faschistische und rassistische Haltung der Türkei gegenüber den Kurd*innen.  Und es stimmt natürlich, dass viele Syrer*innen, bewaffnete Gruppen oder auch politische Gruppen sich auch zu Marionetten der Türkei für diese Politik gemacht haben.

Wir nehmen es so wahr, dass die Stimmung in der Region nicht nur bei den Kund*innen, sondern auch bei den anderen Bevölkerungsgruppen gegen die Türkei gekippt ist. Wie siehst du das?

Afrin: Wie lebt es sich unter türkischer Besatzung? Zum Bericht unseres langjährigen Partners Bassam al-Ahmed.

 Es gab eine Welle der Solidarität bei der arabischen Bevölkerung, vor allem im Raum Idlib. Diese Milizen sind auch für die Araber*innen eine Belastung. Nur das Level der Unterdrückung ist unterschiedlich. Viele sind nach Afrin gekommen, haben an den Trauerfeiern teilgenommen und ihre Solidarität gezeigt. Viele Bilder sind beispielsweise von arabischen Aktivist*innen entstanden. Viele von ihnen haben uns gesagt, wir trauen uns nicht, in die Menschenmenge zu gehen und mit zu demonstrieren, aber wir zeigen Präsenz und machen Bilder und Filme und schicken diese zum Beispiel an die arabischsprachige Presse.

Wie haben andere politische Akteure vor Ort auf die Demonstrationen reagiert?

Interessant ist das Verhalten der HTS (Abkürzung für die islamistische Miliz Hayat Tahrir al-Sham, welche die Provinz Idlib kontrolliert, Anmerk. d. Red. ). Die HTS hat schon lange den Plan, zumindest Jenderis komplett für sich zu beanspruchen. Während der Proteste hat sie sich als Schutzmacht inszeniert, zeigte Präsenz vor Ort und hat die anderen Milizen aus der Stadt vertrieben. Ich rechne damit, dass früher oder später große Teile  Afrins von der HTS kontrolliert werden wird.

Es gibt ja auch die These, dass die Türkei selbst unzufrieden mit den syrischen Milizen ist, weil diese unstrukturiert, korrupt und unkontrollierbar sind. Deswegen könnte die Türkei auch Interesse daran haben, dass HTS die Kontrolle über die Region übernimmt, oder?

Die Türkei versucht tatsächlich seit zwei, drei Jahren die HTS als das kleinere Übel zu verkaufen. Gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft behauptet sie, dass die HTS beim Kampf gegen den IS kooperiert und dessen Anhänger in Schach halten, damit sie nicht mehr nach Paris und Brüssel kommen und dort Anschläge verüben. 

“Vor der Besatzung lebten in Ras El Ain über 35000 Kurd*innen, heute nur noch circa 56.”

Ferhad Ehmê

Wie hat die kurdische Selbstverwaltung in Nordost-Syrien auf die Morde in Afrin reagiert?

Sie hat sofort reagiert und sich öffentlich solidarisiert, als auch die Internationale Gemeinschaft zum Handeln aufgefordert. Sie hat aber nicht versucht, die Proteste für sich zu beanspruchen. Und obwohl sie militärisch sehr nah an Afrin dran ist, hat sie nicht eingegriffen. Ich finde, das war sehr klug.

Auch die arabische Bevölkerung in der Region hat sich vor dem Erdbeben sehr stark exponiert und auf Demonstrationen öffentlich gezeigt, dass sie unzufrieden mit den Lebensverhältnissen ist. Wir haben Bilder gesehen, auf welchen die türkischen Flaggen verbrannt wurden. Würdest du sagen, es gibt jetzt eine Art Fenster für wirkliche Veränderung?

Ja, ich denke, wenn jetzt mehr über die Regionen und die Zustände vor Ort berichtet wird und die internationale Aufmerksamkeit bleibt, birgt das die Chance für Veränderungen. 

Ich habe vor ein paar Wochen jemanden getroffen, der nach dem Erdbeben nach Afrin gereist ist und dort Hilfe geleistet hat.  Er hat mir berichtet, wie sensüchtig die Menschen vor Ort nach Kontakt zu Außenstehenden sind. Er hat es mit einem Gefängnisaufenthalt beschrieben: Man ist fünf Jahre weggesperrt und hat nur seine Mitinsassen. Und auf einmal ist ein Loch in der Mauer und es kommen Leute rein. Du fragst nicht mal nach, wer diese Leute sind, denn du bist so glücklich, dass du jetzt überhaupt Kontakt mit fremden Menschen haben kannst. Und die Menschen vor Ort wollen nicht, dass das Loch wieder zugeschaufelt wird. Sie sagen:  Lasst uns nicht wieder allein! Bleibt hier, kommt her! Und das ist denke ich das, was jetzt passieren sollte.

 

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