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Damaskus will Rojava durch Hunger brechen


Im ANF-Interview erklärt Hesen Koçer das Ziel des Embargos seitens des syrischen Regimes und die Gefahren dieser Politik, welche zu Chaos in der Region führen könne.

12:23
-09:31

Die selbstverwalteten Stadtviertel Şêxmeqsûd und Eşrefiyê in Aleppo und die Region Şehba stehen unter einem Embargo des syrischen Regimes in Damaskus. Die Lebensbedingungen der mehr als 500.000 Einwohner:innen der Region verschlechtern sich zusehends. Hesen Koçer ist stellvertretender Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Im ANF-Interview äußert er sich zum Embargo und den Folgen für die Region und ganz Syrien.

Worauf zielt das Embargo des Regimes gegen die Stadtviertel Şêxmeqsûd und Eşrefiyê in Aleppo und die Region Şehba ab?

Die Angriffe der letzten Zeit auf Nord- und Ostsyrien zielen auf die Einkreisung der Region ab. Es ist bekannt, dass Nord- und Ostsyrien ohnehin bereits von allen Seiten eingekreist ist. Von Norden her durch den türkischen Staat, von Südosten durch die PDK und von Süden vom Regime. Der Zweck des insbesondere in den kurdischen Gebieten in Aleppo von der Regierung in Damaskus verhängten Embargos ist nichts anderes, als die Menschen durch Hunger zur Aufgabe zu zwingen und ihren Willen zu brechen. Natürlich ist dies nicht das erste Mal, dass eine solche Politik umgesetzt wird. Die Regierung in Damaskus hat bisher viele Male auf diese Methode zurückgegriffen.

Die Regierung in Damaskus betrachtet die Menschen dort nicht als ihre eigenen Bürger:innen, sondern marginalisiert sie und erachtet sie als Menschen zweiter Klasse. Aber eines sollte dem Regime bekannt sein: die Bürger:innen Syriens sind alle gleich, man kann einen Teil der Bevölkerung nicht anders behandeln, als wären sie keine Bürger:innen dieses Landes. Das ist eine falsche Politik, und sie wird nur zum Zerfall Syriens führen. Denn so entstehen Gefühle von Wut und Rache im Volk. Es leben 500.000 Menschen in der Region Aleppo. Das Embargo ist so hart, dass nicht einmal das Lebensnotwendigste durchkommt. Das ist eine Hungerpolitik, um den Willen der Menschen zu brechen.

Die Regierung in Damaskus verfolgte von Beginn der Revolution an eine falsche Politik gegenüber Nord- und Ostsyrien. Die Selbstverwaltung hat immer die Politik verfolgt, eine demokratische Lösung zu gewährleisten und die Integrität Syriens zu wahren. Die Haltung des Regimes in Damaskus war jedoch immer chauvinistisch und machtorientiert. Das Regime besteht auf seiner alten Einstellung. Aber wenn die Regierung mit dieser alten Mentalität weitermacht und versucht, sie den Völkern aufzuzwingen, wird das sehr gefährliche Konsequenzen mit sich bringen.

Sie sind diejenigen, die Syrien zerteilen“

Was sind das für Gefahren, von denen Sie sprechen?

Erstens existieren in Syrien bereits Gebiete, die vom türkischen Staat besetzt sind. Auf diese Weise ist Syrien bereits geteilt. Obwohl es nicht offiziell erklärt wurde, ist Syrien de facto geteilt. Denn in diesen Regionen wird das System des türkischen Staates umgesetzt. Der türkische Gouverneur regiert die Städte. Auch wird die türkische Lira als Zahlungsmittel verwendet. Das ist nichts anderes als eine Teilung. Auch die Politik der syrischen Opposition ist sehr falsch. Das ist seit Beginn der syrischen Revolution so. Ihre Politik führte zum Verlust syrischen Territoriums an den türkischen Staat.

Immer wieder beschuldigen die syrische Opposition und das syrische Regime die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Syrien zu teilen. Sie sind jedoch diejenigen, die Syrien auseinanderreißen. Schon jetzt hat die syrische Opposition Syrien praktisch zerrissen. In diesen Gebieten wird die Flagge des türkischen Staates benutzt, es wird Türkisch gesprochen, syrisches Geld wird dort nicht einmal mehr akzeptiert. Ja, es wurde nicht offiziell erklärt, dass diese Gebiete zum Territorium des türkischen Staates gehören, aber in der Praxis sind die Gebiete bereits abgetrennt. In Nord- und Ostsyrien wird jedoch immer noch syrisches Geld verwendet. Bisher gibt es in unserem System der autonomen Selbstverwaltung oder unserem Gesellschaftsvertrag nichts, was eine Abtrennung von Syrien impliziert. Aber sie beschuldigen uns ständig dessen.

Zu glauben, mit einem Embargo über einige Städte in Nord- und Ostsyrien den Willen des Volkes zu brechen und auf diese Weise die Menschen zu erziehen, ist falsch und es handelt sich um eine gefährliche Politik. Syrien wird nicht mehr in den Zustand von 2011 zurückkehren können. Tausende Menschen wurden getötet, Hunderttausende sind geflohen, Städte wurden zerstört. Es ist falsch, zu versuchen, die alte Politik anzuwenden. Die Regierung in Damaskus muss jetzt mit Vernunft handeln. Denn Syrien steht vor dem Zerfall. Das Regime wird entweder die Einheit Syriens verteidigen oder den Zerfall besiegeln. Der türkische Staat hat bereits einen Teil herausgebrochen. Wenn die Regierung in Damaskus auf ihrer Politik beharrt, wird dies eine Verschärfung des Rassismus mit sich bringen. Wenn sie ein Embargo gegen Aleppo verhängen, 500.000 Menschen hungern lassen, dann werden die Leute wütend auf das Regime und sie werden sich erheben.

Unterdessen haben die Kräfte der Inneren Sicherheit, um die Sicherheit in Qamişlo zu gewährleisten, die Orte, an denen sich noch Vertretungen des Regimes befinden, umstellt. Könnten Sie uns den Hintergrund dessen erklären?

Es wird gefragt, warum wir die Einrichtungen des Regimes umstellt haben. Aber das macht die Regierung selbst. Sie verfolgen eine solche Politik, wir tun das, was notwendig ist, um dieser Politik zu entgegnen. Wir zeigen damit unsere Haltung. Wir sind mit einer solchen Situation nicht zufrieden. Man muss auch feststellen, dass, wenn sie ihre Haltung weiter fortsetzen, noch ganz andere Dinge geschehen können. Wenn das Embargo nicht aufgehoben wird, wird sich eine grundlegend andere Situation entwickeln. Wir wollen keine Spaltung im Volk von Syrien. Wir wollen keine Kämpfe unter den Menschen in Syrien. Das ist alles nicht notwendig. Unser Modell hat rein gar nichts mit dem Zerfall Syriens zu tun. Aber Damaskus zeigt uns gegenüber immer wieder diese Haltung. Das machen sie bewusst. Die Völker der Region, die Araber:innen, Suryoye, Kurd:innen und Armenier:innen leben hier zusammen. Sie haben ihre eigene Selbstverwaltung aufgebaut. Wir haben immer den Dialog und die Diskussion unterstützt, denn das ist der einzige Weg zur Lösung der Probleme.

Wenn es so weitergeht, wird sich das Volk gegen das Regime in Damaskus erheben“

Macht das Regime das bewusst? Was steht hinter dieser Politik gegen Nord- und Ostsyrien?

Die Welt steuert auf eine große Veränderung zu. Daher sollte die Regierung in Damaskus sorgfältig darüber nachdenken. Die Welt verändert sich, die Staaten verändern sich und die Regierung von Damaskus muss zur Vernunft kommen. Diese Politik wird auch ihr viel Schaden zufügen. Dieses Volk ist nicht das Volk von früher. Es hat seinen Willen und seine Verteidigungskraft. Jedes Mal sagen sie uns: „Ihr seid mit dem Westen verbündet, ihr seid Teil der internationalen Anti-IS-Koalition und ihr wollt Syrien zerschlagen.“ Wir haben so etwas niemals bekundet. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie wir während der Schlacht um Kobanê mit Damaskus gesprochen haben, wie wir mit Russland gesprochen haben. Wir haben davon gesprochen, dass hier ein Krieg gegen den IS stattfindet, aber keiner von ihnen hat uns unterstützt. Sie haben so getan, als sei die Region hier nicht Syrien. Die Koalition kam jedoch und sagte, sie werde sich am Krieg gegen den IS beteiligen. Wir sind nicht diejenigen, die die Koalition ins Spiel gebracht haben. Dafür ist das Regime selbst verantwortlich. Efrîn wurde angegriffen, aber sie halfen nicht. Sie halfen nirgendwo. Jetzt steht das Regime an der Grenze, aber obwohl der türkische Staat ständig angreift, schweigt das Regime. Diese Politik wird für Syrien ein übles Ende nehmen. Ich meine, das Embargo wird keinerlei Nutzen bringen. Im Gegenteil, es wird zu einem ernsthaften Zerfall in Syrien führen.

Damaskus muss das jetzt begreifen. Die Politik von früher gibt es nicht mehr und sie wird es auch nicht wieder geben. Das Embargo gegen Aleppo nützt dem Regime nichts. Im Gegenteil, es wird das Volk gegen die Regierung von Damaskus auflehnen. Sie muss die Menschen in Şêxmeqsûd unterstützen. Nur so werden die Menschen ein positives Verhältnis gegenüber Syrien entwickeln. Heute jedoch sind die Menschen in Şêxmeqsûd zutiefst wütend auf das Regime. Syrien kann jetzt zwei Wege einschlagen: es wird entweder zerfallen oder sich demokratisieren. Wenn Syrien zerfällt, dann hat die Türkei schon einen Teil. Wenn es Einheit geben soll, dann müssen die besetzten Gebiete befreit werden. Es kann kein neues zentralistisches System geben. Die Macht darf nicht in einer zentralen Hand liegen. Ja, es wird viele Verwaltungen geben. Diese werden innerhalb der Souveränität Syriens bestehen. Es wird einen Generalrat für Syrien geben. Jede und jeder wird Vertreter:innen in diesen Rat entsenden. Nur mit einem solchen System wird die territoriale und soziale Einheit Syriens gewahrt werden können.

 

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