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YPG-International: Ein Bericht von der Til-Temir-Front


Während die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien andauern, nehmen auch die Drohungen einer neuen Invasion gegen die Region weiter zu. Ein Team von Freiwilligen der YPG-International gibt Einblicke und Eindrücke von der Realität an der Front von Til Temir.

Til Temir ist eine kleine Stadt im Westen des Kantons Hesekê im Nordosten Syriens, einer Region, die auch als Rojava bezeichnet wird. Sie ist von großer strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung, da sie an der Autobahn M4 und dem Hauptverkehrsweg zwischen Hesekê und Amed (Diyarbakır) in der Türkei liegt. Ursprünglich von Assyrer:innen gegründet, ist Til Temir auch heute noch eine vielfältige Stadt, in der kurdische, arabische und assyrische Familien nebeneinander leben. Der Krieg gegen den IS hat jedoch sichtbare Spuren in der Demografie der Stadt hinterlassen, da bis zu 500 assyrische Familien vor den Angriffen der Miliz geflohen sind und ganze Dörfer in der Umgebung völlig verlassen wurden. Die christliche Bevölkerung Til Temirs wurde vom IS gezielt ins Visier genommen und litt besonders während der kurzen Besetzung im Jahr 2015 unter einer Reihe schwerer Gräueltaten.

Til Temir wurde damals von den Volksverteidigungseinheiten (YPG) und den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) befreit und in die Selbstverwaltung eingegliedert. Nach einigen Jahren relativer Stabilität wurde Til Temir neben Ain Issa und Tel Rifat wieder zu einem Brennpunkt des Krieges. Am 9. Oktober 2019 starteten der faschistische türkische Staat und seine Stellvertreter eine größere Offensive mit dem Namen „Operation Friedensquelle“. Innerhalb weniger Wochen wurden die Städte Girê Spî und Serêkaniyê besetzt und die Front bis in die Nähe von Til Temir verlegt.

Eine komplexe Frontlinie

In der Vergangenheit waren an den von der Türkei unterstützten Söldnerverbänden, die an der Til-Temir-Front aktiv waren, verschiedene dschihadistische Gruppierungen, Milizen und staatliche Kräfte beteiligt, die alle ihre eigenen Ziele und Pläne verfolgten. Obwohl Gruppen wie die Sultan-Murad-Brigade oder die Al-Nusra-Front nominell miteinander verbunden sind, kommt es regelmäßig zu bewaffneten Auseinandersetzungen und Scharmützeln um die Vorherrschaft. Vor einiger Zeit hat der Söldnerverband „Syrische Nationalarmee“ (SNA) seine Kräfte neu geordnet, was dazu führte, dass die Jaish al-Islam, die mit dem syrischen Flügel von Al-Qaida in Verbindung gebracht wird, die Kontrolle über die Region um Til Temir nahe Serêkaniyê übernahm. Die anderen Gruppen wurden verlegt, um die Besatzung in Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê aufrechtzuerhalten oder aber in internationalen Konfliktgebieten zu operieren, in denen der türkische Staat präsent ist – etwa in Libyen, dem Jemen oder im Südkaukasus.

Die dreiköpfige Einheit der YPG-International an der Front von Til Temir

Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), ein vielfältiges Bündnis aus den Verteidigungseinheiten YPG und YPJ, arabischen, aramäischen, assyrischen, turkmenischen und armenischen Kampfverbänden sowie internationalistischen Freiwilligen, sind die Verteidigungskräfte der Autonomieregion und verfolgen die gemeinsame Vision eines säkularen, demokratischen und konföderalen Syriens. An der Frontlinie von Til Temir kämpfen Mitglieder der verschiedenen QSD-Verbände Schulter an Schulter gegen Dschihadisten und die neo-imperiale Aggression der Türkei. Darüber hinaus sind Hegemonialmächte wie die USA oder Russland in und um Til Temir militärisch präsent. Russische und US-amerikanische Truppen arbeiten eng mit den QSD und auch mit den gegnerischen Kräften zusammen. Seit der „Operation Friedensquelle“ hat auch das syrische Regime seine militärische Präsenz an den Frontlinien verstärkt – in enger Zusammenarbeit mit der russischen Armee.

Ein Krieg gegen uns alle

Im August dieses Jahres wurden die YPJ-Kommandantin Sosin Bîrhat und der YPG-Kommandant Rênas Roj sowie drei weitere QSD-Kämpfer durch türkische Drohnenangriffe auf Til Temir und dessen Umgebung getötet. Nach diesen Attentaten veröffentlichten die QSD eine Erklärung, in der sie von einer neuen Phase des Krieges sprachen und den Spezialkrieg verurteilten, den der türkische Staat gegen Rojava führt. Diese besondere Art der Kriegsführung zeichnet sich durch eine Kombination von konventionellen Mitteln des bewaffneten Konflikts aus, die durch eine Ausweitung des Krieges auf alle Aspekte des zivilen Lebens ergänzt wird. In der Praxis bedeutet dies die Zerstörung der Umwelt, die Plünderung von Ressourcen, die Unterbrechung der Wasserversorgung von Großstädten, der wahllose Beschuss ziviler Wohngebiete und die Vertreibung von Menschen. Dies sind nur einige Aspekte des Krieges, den die faschistisch geführte Türkei Rojava aufzwingt. Alle Bereiche des Lebens werden angegriffen, von der Wirtschaft über die Kultur bis hin zur Zivilgesellschaft. Der türkische Staat schöpft jede mögliche militärische Option aus und führt mit Hilfe eines massiven Geheimdienstes und Propagandaapparats gleichzeitig eine Terrorkampagne. Frauen und Jugendliche werden besonders ins Visier genommen, da sie die wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen beim Vormarsch der Revolution sind. Politisch aktive Frauen wie Hevrîn Xelef, Zehra Berkel, Sada al-Harmoush und Hind al-Khedr sind nur einige der vielen Gefallenen, die im Kampf um Autonomie und Befreiung ihr Leben verloren haben.

Eine moderne Selbstverteidigung des Volkes

In einer asymmetrischen Kriegsführung, in der wir mit mehreren dschihadistischen Gruppen und den Interventionen des türkischen Staates – und damit der zweitgrößten NATO-Armee – konfrontiert sind, müssen sich unsere Taktiken natürlich an die strategische Realität anpassen. Heutzutage operieren die QSD hauptsächlich in kleinen Gruppen an der Front und bedienen sich einer Vielzahl neuer Taktiken der Kriegsführung. Grabensysteme beispielsweise richten sich gegen die Luftüberlegenheit des Gegners und ermöglichen Manöver unter Bedingungen, unter denen Bodenbewegungen offen sichtbar sonst kaum möglich wären; Antithermal- und Tarntechniken helfen uns auf dem Schlachtfeld gegen moderne Technologie; statt Verteidigungskräfte an bestimmten Orten zu konzentrieren, sind sie entlang der Frontlinien verstreut und damit flexibel einsetzbar. Durch die Verringerung der Anzahl der Kämpferinnen und Kämpfer in einer bestimmten Position wird die Möglichkeit einer Vielzahl von Verlusten deutlich reduziert, während die Verteidigungsfähigkeit erhalten bleibt. Für den Feind folgt jede militärische Aktion der Logik der Kosten-Nutzen-Analyse - dies gilt insbesondere für Luftangriffe, deren Durchführung extrem teuer ist. Das Vertrauen des Gegners in seine technologische Überlegenheit ist somit ein zweischneidiges Schwert.

Unter Genossen: Berichte von der Front

Mit einer kleinen Einheit aus drei internationalistischen Genossen nahmen wir unsere vorgesehene Position an der Frontlinie von Til Temir ein, die wir uns mit einer Einheit lokaler arabischer QSD-Kämpfer:innen teilten. Es handelte sich um erfahrene Freund:innen, die an mehreren YPG/YPJ-Offensiven gegen den IS teilgenommen hatten. Einige von ihnen haben sich von Anfang an aktiv an der Revolution beteiligt – es war eine Ehre für uns, an ihrer Seite zu kämpfen. Die Stellung befand sich im Nordosten von Til Temir, in der Umgebung eines kleinen Dorfes. Das Dorf war schon vor langer Zeit größtenteils großflächig worden, aber einige wenige Menschen lebten noch immer dort. Bei einem Rundgang wurde die Intensität der feindlichen Angriffe deutlich; im gesamten Dorf gab es keinen einzigen Quadratmeter ohne scharfer Splitter – die tödlichen Überreste von Artilleriegranaten. Die meisten Häuser trugen Spuren der Angriffe, aber auch von dem zivilen Leben, das zuvor geherrscht hatte. Die wenigen Bewohner:innen, die wir trafen, versuchten, das bisschen Normalität, das sie in ihrem Leben hatten, zu bewahren; die Auswirkungen des Krieges waren jedoch bei allen sichtbar.

Verteidigungsstellung an vorderster Front

Unsere Position befand sich am vordersten Punkt der Frontlinie, und jenseits der Schützengräben trennte uns nur ein Niemandsland vom Feind. Direkt neben uns hatten die Truppen des syrischen Regimes zwei Stellungen, die nur mit wenigen Soldaten besetzt waren. Der zentrale Verteidigungspunkt dieses Teils der Frontlinie war ein Hügel, auf dem sich eine starke Defensivstellung befand, die allerlei militärische Funktionen erfüllte. Hier wurden verschiedene Teams eingesetzt, von denen jedes eine spezifische Aufgabe hatte, darunter Überwachung und der Einsatz von Langwaffen und schweren Waffen, die zusammen einen organisierten Verteidigungswall bildeten. Zu unseren Aufgaben in dieser Zeit gehörten Nachtschichten in diesen Stellungen, die Beobachtung der Frontlinie und die Meldung von feindlichen Bewegungen. Bei mehreren Gelegenheiten wurden gegnerische Kräfte gesichtet, die aggressiv in unsere Richtung vorstießen. Sie benutzten gepanzerte Bagger, um neue Gräben, Stellungen und Tunnelsysteme zu bauen, vor allem in der Nacht. In vier verschiedenen Nächten wurde der Feind aufgespürt und anschließend ausgeschaltet. Unsere Stellungen wurden ständig von türkischer Artillerie bombardiert, in Abstimmung mit Mörserangriffen der Dschihadisten – mehrfach, Tag und Nacht, in unregelmäßigen Abständen. Die Bombardierungen konnten zwischen zehn Minuten und mehreren Stunden andauern. Wenn der Beschuss begann, begaben wir uns sofort in schützende Stellungen, wo wir blieben, bis die Situation es uns erlaubte, die Position wieder einzunehmen. Trotz des schweren Bombardements erwies sich unser Schutzsystem als sehr wirksam. Während unserer Zeit dort hatten wir selbst bei Luftangriffen türkischer Kampfflugzeuge nicht einen einzigen Verlust zu beklagen. Unsere letzte Nacht in dieser Region erwies sich als die intensivste, denn wir wurden bis zum Morgen mit äußerst präzisen Bombardements direkt ins Visier genommen. Obwohl die Stellung getroffen und teilweise zerstört wurde, blieben wir und unsere Moral unbeeindruckt.

Spuren der Zerstörung in einem Dorf in Til Temir

Nach einem Monat wurden wir gemäß dem Rotationssystem an der Frontlinie an eine andere Position nordwestlich der Stadt versetzt. Wir befanden uns wieder in der Umgebung eines Dorfes, ein Stück hinter der eigentlichen Frontlinie, zu der unser Team jeden zweiten Tag geschickt wurde. Hier war der Feind viel näher dran und konnte Bodenangriffe starten und die Mörser, Artillerie und Drohnen einsetzen, die wir bereits gesehen hatten. Unsere Aufgabe bestand darin, feindliche Bewegungen aufzuklären und Drohnenaktivitäten zu melden sowie auf Bodenangriffe reagieren zu können. Anders als bei der vorherigen Position gab es weniger Bombardierungen. Aufgrund der geringen Entfernung fand jedoch relativ häufig sowohl wahlloser als auch gezielter Beschuss des Feindes in unsere Richtung statt. Während unserer Zeit dort gab es mehrere Situationen, bei denen alle Einheiten in höchste Alarmbereitschaft versetzt wurden. So wurde beispielsweise einmal eine große Truppenbewegung verzeichnet, bei der mindestens fünfzehn gepanzerte Fahrzeuge die feindlichen Linien in der Nähe der unseren verstärkten und sich aufstellten. Unsere Kräfte waren in der Lage, das Gebiet auszuleuchten, den Feind zu lokalisieren und erfolgreich anzugreifen, so dass ein weiteres Vorrücken verhindert werden konnte. Dies war nur eines von vielen Beispielen, die die Bereitschaft und Stärke der Selbstverteidigungskräfte bewiesen.

Dank unserer Lage war es möglich, mit den Menschen in unserer Umgebung in Kontakt zu treten und einen Eindruck vom zivilen Leben entlang der Frontlinie zu bekommen. Mehrere Freund:innen, an deren Seite wir kämpften, stammten selbst aus dem Dorf, und so wurden wir von den Bewohner:innen herzlich empfangen. Wir wurden nicht als fremde Truppen angesehen, sondern in die Häuser zu Tee und Gesprächen eingeladen. Das Dorf war trotz der Schwierigkeiten und Gefahren relativ lebendig. Der Feind zwingt den Krieg zu einem ständigen Eingriff in das Leben und die Routine der einfachen Menschen, was oft eine harte Realität ist. Auf der anderen Seite ist es ein Beispiel für den Widerstandsgeist und die hartnäckige Weigerung, aufzugeben, die man überall in Rojava spürt. Angesichts der brutalen Realität, in der man Freund:innen und Weggefährt:innen verliert, ist all dies eine Quelle großer Inspiration und Moral.

Die Invasionsdrohungen der Türkei - jetzt ist es Zeit für Solidarität!

Am 11. Oktober ging der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan an die Öffentlichkeit und beschuldigte die YPG, von Tel Rifat aus Raketen auf Azaz (von der Türkei besetztes Gebiet in Nordsyrien, Anm. d. Red.) abgefeuert zu haben. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums seien dabei zwei Polizisten getötet worden. Die Generalkommandantur der YPG bestreitet jede Beteiligung; Tel Rifat wird ohnehin hauptsächlich von lokalen QSD-Verbänden und syrischen Regimetruppen gehalten. Seit dem Vorfall entwerfen Vertreter des türkischen Staates sowie zahlreiche nationale und internationale Presseagenturen Szenarien, nach denen Angriffe auf Tel Rifat, Kobanê oder Minbic wahrscheinlich sind – Regionen, die Erdoğan und seinem Regime ein Dorn im Auge sind. Erdoğan selbst erwähnte auch andere Orte entlang der türkischen Grenze, die ins Visier genommen werden sollen, darunter die Stadt Qamişlo, die als das kulturelle Zentrum von Rojava gilt. Größere Operationen an den Frontlinien von Til Temir, Ain Issa und Zirgan werden ebenfalls als sehr wahrscheinlich bezeichnet. Unabhängig davon, wo wir Angriffe erwarten, ähnelt die Rhetorik der türkischen Regierungsvertreter stark den Erklärungen, die kurz vor den Kriegen in Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê abgegeben wurden. In den letzten Wochen kam es zu einer erhöhten Konzentration feindlicher Truppen rund um Tel Rifat und an der östlichen Frontlinie, während die Angriffe auf andere Teile der Kampfzone zunahmen. Erst vor wenigen Tagen absolvierten syrische Regimetruppen und das russische Militär ein gemeinsames Manöver in der Region um Til Temir.

Es gibt viele Anzeichen, die auf eine baldige Invasion hindeuten. Erklärungen der Vertreter der Staaten Russland, Amerika und Iran, keine türkische Militärintervention in Nord- und Ostsyrien zu akzeptieren, können nicht als vertrauenswürdig angesehen werden, wie die Geschichte der Angriffe auf Rojava deutlich gezeigt hat. Daher rufen wir alle Freundinnen und Freunde in aller Welt auf, sich bereit zu machen. In dem Maße, in dem wir uns hier in Rojava auf den Krieg vorbereiten, müssen sich auch unsere Weggefährt:innen rund um den Globus vorbereiten. Gemeinsam werden wir es nicht zulassen, dass der faschistische türkische Staat mit seiner Aggression gegen Rojava erfolgreich sein wird. In jedem Winkel der Welt muss der Widerstand organisiert werden. Die Revolution in Rojava, die eine befreite Gesellschaft mit der Vorreiterrolle der Frauen, ihrem ökologischen Paradigma und einem föderalen System der direkten Demokratie aufbauen will, muss verteidigt werden. Nach den Besetzungen von Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê versprechen wir, dass wir keinen weiteren Schlag gegen die Menschen in Nord- und Ostsyrien zulassen werden. Als kämpfende Internationalist:innen werden wir unsere Rolle hier in Rojava erfüllen, ebenso wie unsere revolutionären Freundinnen und Freunde auf der ganzen Welt. Berxwedan jiyan e! Widerstand heißt Leben!

 

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