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Türkisch-Kurdistan: Vielschichtiger Krieg gegen Dersim


Dersim liegt im permanenten Fokus des türkischen Staats. Von kulturellem Genozid über Ökozid und Femizid bis zum Spezialkrieg wird die nordkurdische Provinz durch eine komplexe und facettenreiche Kolonialpolitik beherrscht.

Dersim gilt mit seiner Geschichte, Kultur, Natur und seinen Widerständen als eines der wichtigsten Zentren Kurdistans. Damit liegt die Provinz im permanenten Fokus des türkischen Staats. Von kulturellem Genozid über Ökozid und Femizid bis zum Spezialkrieg wird Dersim durch eine komplexe und facettenreiche Kolonialpolitik beherrscht. Nahezu die Hälfte der Bevölkerung von Dersim saß bereits im Gefängnis oder befindet sich noch hinter Gittern, ein erheblicher Teil der Bewohnerinnen und Bewohner ist durch gerichtlich angeordnete Meldeauflagen einer anderen Form der Isolation unterworfen.

Die Natur der Region wird ihren Menschen verboten, indem sie unter dem Etikett der „Aufstandsbekämpfung“ zu sogenannten Sondersicherheitsgebieten deklariert wird. Ab dem Sommer bis tief in den Herbst brennt es in den Wäldern, „Jagdtouristen“ aus dem Westen erhalten Lizenzen für den Abschuss der vielfältigen Fauna. Durch Staudammprojekte, Wasserkraftwerke und Steinbrüche werden mehrere Strategien der staatlichen Gewalt gleichzeitig angewendet: die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die Entvölkerung ganzer Landstriche.

Zur absoluten Dominanz des türkischen Staates über die kurdische Gesellschaft wird sexualisierte Gewalt weiterhin als Kriegsinstrument eingesetzt. In der Provinz ist ein deutlicher Anstieg der Fälle von Vergewaltigung, sexueller Nötigung, Femizid und ungeklärten Todesfällen zu verzeichnen. Für die Frauen ist die Lage dramatisch. Sie sind unterschiedlichen Formen und Dimensionen der inzwischen systematischen Gewalt in Dersim ausgesetzt. Doch wenden sich Opfer von femizidalen und misogynen Gewaltfällen an Justiz- und Sicherheitsbehörden, werden die Handlungen der Täter nach Möglichkeit stets vor der Öffentlichkeit verharmlost und verheimlicht. Als beliebtes Mittel hat sich hier die Geheimhaltungsverfügung über Ermittlungsakten bewährt. Eine weitere praktizierte Methode der Spezialkriegsführung stellt die staatliche Informantenanwerbung dar.

Umriss eines deutlich (un-)sichtbaren Krieges

Femizidpolitik:

- Einige Cafés und Restaurants im Zentrum der Provinzhauptstadt sind speziell für den Drogenhandel, Missbrauch und Prostitution eröffnet worden. Es ist allgemein bekannt, dass viele dieser Betriebe ihre Konzessionen unter der Amtszeit des ehemaligen Gouverneurs und Zwangsverwalters Tuncay Sonel erhielten.

- Im Januar 2020 wurde Dersim von einem schweren Fall von Kindesmissbrauch erschüttert. Ein damals 42-Jähriger wurde im Kreis Pêrtag (Pertek) verhaftet, weil er sich mehrfach an mindestens sieben Jungen im Alter von elf bis sechzehn Jahren vergangen haben soll. Die Opferzahl und das ganze Ausmaß des Skandals war lange Zeit unklar, da die Anwaltskammer von Dersim aufgrund eines Geheimhaltungsbeschlusses zu den Ermittlungen kein Akteneinsichtsrecht hatte. Seit Juni läuft der Prozess gegen den Mann. Ein im vergangenen Juni bekannt gewordener Fall von sexualisierter Gewalt an einem elfjährigen Kind im Kreis Pilûr (Ovacık) wurde von den Behörden tagelang geheimgehalten. Proteste dagegen sind verboten worden.

- Vorwürfe, wonach Studentinnen der Munzur-Universität zum Sex mit dem Gouverneur, Landräten und hochrangigen Beamten gezwungen worden seien und zu diesem Zweck innerhalb der Hochschule bestimmte Strukturen geschaffen wurden, sind sowohl von den Justizbehörden als auch der Universitätsleitung für „ermittlungsunwürdig” eingestuft worden.

- Am 20. Mai ist eine Frau mitten auf der Cumhuriyet Caddesi Opfer von Polizeigewalt geworden. Zunächst wurde sie einer Ausweiskontrolle unterzogen, weil sie sich „verdächtig” verhalten hätte. Wenige Minuten später wurde sie an einer Bushaltestelle von mehreren Polizisten überwältigt. Zuerst brachte man sie auf den Boden, um anschließend auf sie einzutreten. Der panisch vor Angst schreienden Frau wurde dabei eine Waffe an den Kopf gehalten. Herumstehende, die die Szenen beobachteten, protestierten lautstark und forderten das Ende der Gewalt. Weil sich die Menschenmenge nicht auflöste, setzten die Beamten Tränengas ein. Zudem wurden mehrere Warnschüsse in die Luft abgegeben. Begründet wurde die ganze „Maßnahme” damit, dass das Opfer eine „Selbstmordattentäterin” hätte sein können. Die Frau erstattete Anzeige, zwei Militärpolizisten wurden suspendiert.

- Die Studentin Gülistan Doku wird seit dem 5. Januar 2020 vermisst. Schnell wurde eine Selbstmord-Theorie verfolgt, obwohl Dokus Ex-Freund Zainal Abakarov einen Tag vor ihrem Verschwinden versucht hatte, sie mit Gewalt in sein Auto zu zerren. Der Polizistensohn ist untergetaucht, die Ermittler spekulieren weiterhin auf Suizid durch einen Sprung in den Munzur. Ein unabhängiges Gutachten gegenteiligen Inhalts wird ignoriert, Aktionen von Kommilitoninnen unter dem Motto „Wo ist Gülistan Doku?” sind ebenfalls verboten. Darüber hinaus wird gegen den Anwalt der Familie ermittelt. Der Jurist wird der „Preisgabe von vertraulich zu behandelnden Ermittlungsergebnissen” beschuldigt.

Krieg gegen die Natur:

Wie auch in anderen Regionen Kurdistans lodern auch in Dersim immer wieder verheerende Brände, die unzählige Hektar Wald und Anbaufläche verschlingen. Das ist Teil der seit der Staatsgründung 1923 in Kurdistan gültigen Aufstandsbekämpfung und Vertreibungspolitik. Aber insbesondere seitdem die türkische Regierung 2015 die Friedensgespräche mit der PKK einseitig abbrach, lässt sie die Wälder in den kurdischen Gebieten wieder systematisch niederbrennen. Das Waldbrand-Monitoring der Nasa stellt Satellitenbilder zur Verfügung, die den Vorher-Nachher-Vergleich zeigen. Ein Blick auf die Bilder verdeutlicht, dass Ankara den Ökozid in Dersim in den letzten sechs Jahren massiv steigern ließ.

Steinbrüche, Gruben, Wasserkraftwerke:

Ob Brandstiftungen, Stauseen oder die Ausbeutung natürlicher Ressourcen als politisches Zwangsmittel: Dersim ist nicht mehr nur von seinen Bergen umgeben, sondern befindet sich in der Zange einer „organisierten Böswilligkeit“. Die Steinbrüche, Gruben und Wasserkraftwerke dienen eher der Überwachung als der behaupteten Investition. Seit Einführung des Ausnahmezustands im Zuge des Pseudoputschs im Sommer 2016 schießen die sogenannten Kalekol, zur Festung ausgebaute Militärwachen, zudem wie Pilze aus dem Boden. Die Berge werden faktisch kahlgerodet, Dersim ist zu einer Militärgarnison umgebaut worden.

Bedrohung von heiligen Orten:

Die heiligen Orte der alevitischen Bevölkerung Dersims sind ebenfalls vom ökologischen Zerstörungswahn der türkischen Regierung bedroht. Durch Kommerzialisierungsprojekte soll das kulturelle Gedächtnis der Region ausgelöscht werden. Die Menschen sind dagegen traditionell im Widerstand. Ihren Kampf tragen sie sowohl auf der Straße als auch in Gerichtssälen aus. Das letzte Angriffsziel waren die legendären Munzur-Quellen, die als alevitische Kultstätte gelten. Das Gelände wurde mit Beton zugebaut und sollte als Touristenattraktion nur noch gegen Eintrittsgeld zugänglich gemacht werden. Die Bevölkerung von Dersim sieht hierin eine Fortsetzung des Genozids von 1937/38.

Zutrittsverbot in Dörfer:

Die Geschichte Kurdistans ist gleichzeitig die Geschichte der Genozide. Der Völkermord in Dersim ist nur einer davon. Zwischen 1937 und 1938 tötete die türkische Armee dort etwa 70.000 Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, auf grausame Weise. Menschen, die in Berghöhlen Zuflucht suchten, wurden eingemauert, ausgeräuchert oder verbrannt. Viele Opfer, vor allem Frauen, stürzten sich aus Verzweiflung von den Bergklippen in den Munzur, um nicht gefangen genommen zu werden. Mehr als 100.000 Menschen wurden zur Deportation gezwungen. Unzählige Mädchen und Jungen wurden verschleppt. Ihre Dörfer galten jahrzehntelang als „verbotene Zone“. In den 90er Jahren wiederholte sich die Entvölkerung kurdischer Dörfer, dicht besiedelte Landstriche wurden zu militärischem Sperrgebiet. Seit 2015 gelten viele dieser Ortschaften, die zwischenzeitlich wieder bewohnt waren, als „Sondersicherheitsgebiete“. Der Zutritt ist damit verboten.

Minenfeld Dersim:

Landminen gehören zu den grausamsten Waffen, die Menschen je erfunden haben. Die Türkei gehört zu den zehn am stärksten von Minen betroffenen Ländern der Welt. Allein in den kurdischen Regionen schlummern rund eine Million vom Militär verlegte Minen – gut 100.000 davon im ländlichen Hinterland. Mit mindestens 10.557 an der Zahl liegen die meisten dieser Sprengsätze in Dersim, die immer wieder Zivilist:innen in den Tod reißen oder verstümmeln. Nach einem Bericht des türkischen Innenministeriums sind zwischen 1984 und 2009 landesweit 1.269 Menschen durch Minenexplosionen ums Leben gekommen. Bei 644 der Opfer handelte es sich um zivile Personen. Verletzt wurden im selben Zeitraum insgesamt 5.091 Menschen.

Bis 2014 hätte die Türkei ihre tödlichen Sprengsätze eigentlich räumen müssen. Das sieht die Ottawa-Konvention über das Verbot von Antipersonenminen vor, zu der sich die Türkei 2003 mit ihrer Unterschrift verpflichtete. Dieses Ziel wurde jedoch nicht erreicht, weshalb die Regierung eine Fristverlängerung für die Minenräumung beantragte und auch zugesprochen bekam. Ob alle verminten Gebiete wie vorgeschrieben bis zum Jahr 2022 vollständig geräumt sein werden, bleibt fraglich.

 

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