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Al-Hol Flüchtlingslager: "Das Al-Hol-Lager ist eine tickende Zeitbombe"


In Nordsyrien kann sich niemand um die IS-Gefangenen kümmern, sagt der Flüchtlingsbeauftragte Sheikhmus Ahmed. Ohne Hilfen würden sie zu einer weltweiten Bedrohung.
Lager Al-Hol
Familienangehörige von IS-Kämpfern bereiten sich Ende November auf die Abreise aus dem Lager Al-Hol in Nordsyrien vor. © DELIL SOULEIMA/​AFP/​Getty Images

"Das Al-Hol-Lager ist eine tickende Zeitbombe" – Seite 1

Im Lager Al-Hol im Nordosten von Syrien sitzen mehr als 60.000 Menschen fest. Darunter sind Vertriebene aus dem Irak und Syrien, aber auch viele Angehörige von Kämpfern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Die kurdische Autonomieverwaltung in Nordostsyrien, unter deren Kontrolle das Lager steht, hat im Oktober verkündet, nach und nach die 25.000 syrischen Staatsangehörigen gehen zu lassen. Sheikhmus Ahmed, der sich für die kurdische Verwaltung um die Vertriebenenlager kümmert, erläutert im Interview die Gründe für die Freilassungen. Ahmed hat unsere Fragen schriftlich beantwortet.

ZEIT ONLINE: Herr Ahmed, Sie haben gerade mehr als 500 Syrerinnen und Syrer aus dem Al-Hol-Lager freigelassen. Viele von ihnen sind mutmaßlich Angehörige von IS-Mitgliedern. Ist das nicht unverantwortlich?

Sheikhmus Ahmed: Die neue Regelung besagt, dass alle Syrerinnen und Syrer, die das Lager Al-Hol verlassen möchten, sich registrieren lassen und dann gehen können. Durch das neue Programm haben bisher rund Tausend Menschen das Lager verlassen, etwa 5.000 Menschen wurden über das Jahr verteilt aufgrund anderer Regelungen freigelassen. Die meisten waren Frauen und Kinder und man kann sie als "IS-Familien" bezeichnen. Ihre Ehemänner und Väter waren vermutlich beim IS und haben dort verschiedene Tätigkeiten ausgeführt. Andere Männer wurden möglicherweise getötet oder sitzen im Gefängnis. Im Nahen Osten und gerade in Syrien folgen Frauen und Kinder zumeist dem Mann. Wo der Mann hingeht, müssen auch sie gehen. Aber sie selbst stellen keine Bedrohung dar.

ZEIT ONLINE: Wohin werden diese Menschen jetzt gehen?

Ahmed: Sie kehren in ihre Dörfer und Städte zurück. Die Leute aus Deir ez-Zor kehren nach Deir-ez-Zor zurück, die Leute aus Raqqa nach Raqqa und so weiter. Nachdem sie einen Antrag auf Freilassung gestellt haben, wird geprüft, ob sie an Morden oder Gewaltverbrechen gegen Zivilisten beteiligt waren. So soll auch ermittelt werden, ob von ihnen eine Gefahr ausgeht oder ob sie wieder in ihrer Gemeinde leben können.

ZEIT ONLINE: Werden sie unter besonderer Beobachtung stehen?

Ahmed: Wenn die Leute in ihre Regionen zurückkehren, begleiten sie die Asayish, die Sicherheitskräfte, zum jeweiligen Gemeinderat. Der Rat verteilt sie auf ihre Dörfer und Städte und lässt sie dort überwachen. Auch behalten örtliche Frauen- und Hilfsorganisationen im Blick, wer in ihre Ortschaften zurückkehrt. Wenn jemand Probleme macht, lässt sich das leicht zurückverfolgen. Bisher war noch keiner der insgesamt 6.000 Menschen, die das Al-Hol-Lager verlassen haben, an Angriffen von Schläferzellen beteiligt. Es gibt andere IS-Familien, die dagegen eine ernsthafte Gefahr darstellen: Angehörige jener Männer, die beim IS eine hohe Position hatten, und die nun aus dem Lager ausbrechen und in die Türkei fliehen.

ZEIT ONLINE: Die kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDF) waren der wichtigste Verbündete des Westens im Kampf gegen den IS. Wurde die Entscheidung, Zehntausende Lagerbewohner freizulassen, abgestimmt, mit der US-Administration zum Beispiel?

Ahmed: Die Internationale Koalition wurde über diese Entscheidung informiert. Alles, was den Umgang mit den männlichen Häftlingen in den Gefängnissen betrifft, wird gemeinsam von den SDF und der Internationalen Koalition entschieden, weil es da um Sicherheitsfragen geht. Über die Zukunft der Zivilbevölkerung im Al-Hol-Lager entscheidet die Autonomiebehörde. Allerdings erfolgen die Freilassungen in Absprache mit Vertretern der Vereinten Nationen, sie wissen, wie wir mit den freigelassenen Syrern und Syrerinnen verfahren.

"Wir kämpfen mit der schlechten Versorgungslage"

ZEIT ONLINE: In den Gefängnissen in Nordostsyrien sitzen noch Tausende IS-Kämpfer. Die kurdischen Behörden haben jüngst aus den Gefangenenlagern nahe der Stadt Kamischli mehr als 600 IS-Anhänger freigelassen. Sollen bald alle Gefangenen freigelassen werden?

Ahmed: Viele dieser Männer hatten ihre Strafe verbüßt. Sie waren vermutlich einfache Kämpfer beim IS, keine Emire oder Entscheidungsträger. Ob auch die restlichen Gefangenen entlassen werden, kann ich derzeit nicht sagen, aber es ist möglich, dass es eine Amnestie geben wird. Viele der inhaftierten IS-Anhänger zeigen Reue und vermitteln den Eindruck, dass sie sich von der IS-Ideologie abgewendet haben. Wenn das glaubhaft ist, sollten sie in ihre Gemeinden zurückkehren und mit ihrem Leben weitermachen können. Wir sehen, dass die IS-Mentalität bei vielen Inhaftierten langsam verschwindet. Viele haben sich dem IS angeschlossen, weil es ihnen persönliche Vorteile brachte, und sie bereuen das jetzt. Im Al-Hol-Lager liegt die Sache etwas anders: Die Gemeinden in Nordostsyrien hatten die Autonomieverwaltung um die Freilassung der Syrer gebeten, und die Behörden haben dem zugestimmt.

ZEIT ONLINE: Ein Grund für die Freilassungen ist, dass die Zustände im Al-Hol-Lager nicht mehr zumutbar sind. Viele Kämpfer und ihre Angehörigen kamen nach der Einnahme der letzten IS-Bastion Baghuz im Frühjahr 2019 nach Al-Hol. Das Lager ist seither völlig überfüllt, es fehlt an Trinkwasser und Nahrung, die Corona-Pandemie hat die Lage noch verschärft. Wie kam es zu dieser Notlage?

Ahmed: Nach der Einnahme von Baghuz lebten plötzlich bis zu 75.000 Menschen im Lager. Viele brachten Krankheiten aus Baghuz mit, viele Kinder und ältere Menschen sind an den Folgen der Infektionen gestorben. Es gab zu wenig Medikamente und medizinische Ausstattung, um ihnen zu helfen. Noch immer kämpfen wir im Lager mit der schlechten Versorgungslage. Nach dem Angriff der Türkei auf die Regionen Ras al-Ayn und Tel Abyad haben sich viele internationale Hilfsorganisationen aus Nordostsyrien zurückgezogen. Auch wurde nach einem Beschluss des UN-Sicherheitsrates Anfang des Jahres der Grenzübergang  Tel Kocher geschlossen. Es war der einzige Übergang zwischen dem Irak und Nordostsyrien, über den die UN Hilfsgüter und Nahrungsmittel in die Region bringen konnten. Das hat die Lage für die Menschen enorm verschlechtert. Viele Medikamente, aber auch Dinge, die wir für die Versorgung von Kindern oder Diabetes- und Herzkranken dringend brauchen, können seither nicht mehr nach Nordostsyrien gelangen. Deswegen sterben Menschen im Lager. Unsere Behörden versuchen ihr Bestes, um diesen Versorgungsengpass auszugleichen, aber es sind zu viele, die Hilfe brauchen.

ZEIT ONLINE: Ein Grund für die mangelnden Ressourcen war der Einmarsch der türkischen Truppen in den Nordosten Syriens im vergangenen Herbst. Kurdische Sicherheitsleute, die vorher IS-Gefangene bewachten, mussten nun an der Front kämpfen oder sich um die Hunderttausenden Menschen kümmern, die vor dem Beschuss und den Massakern der türkischen Milizen geflohen waren. Hunderte Inhaftierte nutzten das Chaos aus, um zu fliehen. Wie ist die Lage jetzt?

Ahmed: Die türkischen Angriffe hatten sehr schlimme Folgen für unsere Region. Die humanitären Organisationen konnten nicht mehr operieren wie vorher. Auch wurden die IS-Schläferzellen in der Folge stärker und aktiver. Nach einem türkischen Angriff auf die Stadt Ain Issa konnten etwa Hunderte IS-Anhänger aus dem dortigen Lager fliehen. Auch aus dem Al-Hol-Lager konnten immer wieder Familien entkommen, einige auch mit Unterstützung des türkischen Geheimdienstes oder mithilfe von lokalen Mitarbeitern der Hilfsorganisationen, die im Lager operieren. Wir versuchen so gut es geht unser Personal vor den Angriffen der Schläferzellen im Lager zu schützen. Aber es gibt immer wieder Attentate.

ZEIT ONLINE: Im Al-Hol-Lager sind rund 11.000 Ausländer, sie gelten als extrem radikalisiert. Was werden Sie mit ihnen machen?

Ahmed: Im Al-Hol-Lager gibt es drei Abschnitte: einen Bereich für die Iraker, einen Bereich für die Syrer, und einen separaten Bereich, in dem die Ausländer untergebracht sind, darunter viele Frauen und Kinder. Sie kommen aus 53 Ländern, etwa aus Deutschland, Frankreich, Russland, oder aus arabischen Staaten. Wir wollen zunächst die Syrer gehen lassen, dann versuchen wir, die irakische Regierung dazu zu bringen, ihre Staatsangehörigen zurückzuholen. Für die Ausländer – vor allem für die Kinder und Frauen – sollen Rehabilitationszentren errichtet werden, um sie langsam von der IS-Ideologie abzubringen. Das erfordert aber viel Zeit und internationale Unterstützung.

"Es ist sehr gefährlich, diese Menschen sich selbst zu überlassen"

ZEIT ONLINE: Einige der ausländischen Frauen errichten vom Al-Hol-Lager aus offenbar schon das nächste Kalifat. Es gibt Berichte darüber, wie sie im Lager Scharia-Gerichte eingesetzt haben und Hinrichtungen durchführen. Diese Frauen, sagte eine Lagerwärterin ZEIT ONLINE im vergangenen Jahr, seien "eine Gefahr für die ganze Welt". Teilen Sie diese Einschätzung?

Ahmed: Ja. Die Ausländer und ihre Frauen sind die radikalsten IS-Anhänger. Sie folgen weiterhin der Ideologie des IS, für sie ist das Al-Hol-Lager ein Mikrokosmos eines künftigen Islamischen Staates. Als der IS nach Syrien und in den Irak kam, hat er viele Syrer und Iraker beeinflusst, auch Leute, die mit Gewalt und Terror eigentlich nichts zu tun haben. Sie haben im Lager große Angst. Wer sich dort nicht gemäß der IS-Doktrin verhält, wird von den radikalen Anhängern mit dem Tod bedroht, einige Syrer und Iraker, die das nicht taten, wurden schon umgebracht.

Der getötete Emir des IS-Kalifats, Abu Bakr al-Baghdadi, richtete sich vor seinem Tod sogar direkt an die IS-Anhänger im Al-Hol-Lager. Er sagte, sie müssten weiterarbeiten und die Organisation und insbesondere die Scharia-Gerichte und die Religionspolizei wieder aufbauen. Die ausländischen Frauen unterziehen ihre Kinder einer Gehirnwäsche und einem militärischen Drill, die Kinder werden zu Kampfmaschinen. Das ist sehr gefährlich. Die, die jetzt ihre Vorstellungen eines IS-Kalifats im Kleinen ausleben, werden erneut versuchen, ihre Gewaltherrschaft auf der ganzen Welt zu verbreiten. Das Al-Hol-Lager ist eine tickende Zeitbombe. Wenn unsere Verwaltung nicht sehr bald internationale Unterstützung erhält, wird das Al-Hol-Lager zu einer ernsthaften Bedrohung.

ZEIT ONLINE: Die kurdischen Behörden fordern seit Monaten von der Weltgemeinschaft Hilfe bei der Versorgung der Gefangenen und Vertriebenen. Ist da bisher etwas passiert?

Ahmed: In den vergangenen eineinhalb Jahren haben wir über die Medien, über die Delegationen, die unsere Region besuchen, und über die Vereinten Nationen unsere Appelle überbracht, dass wir dringend Hilfe brauchen, insbesondere im Hinblick auf die humanitäre Hilfe. Aber es hat sich nichts getan. Wir hoffen, dass der UN-Sicherheitsrat die Entscheidung trifft, den Tel Kocher-Übergang wieder zu öffnen, damit Hilfsgüter zu uns gelangen. Aber danach sieht es derzeit nicht aus.

ZEIT ONLINE: Mehrere europäische Staaten haben es bisher abgelehnt, ihre Staatsbürger, die für den IS gekämpft haben, zurückzuholen, auch die deutsche Regierung ist zurückhaltend. Sie fürchten die möglichen Folgen, etwa mehr Anschläge in europäischen Städten. Können Sie diese Haltung nachvollziehen?

Ahmed: Sie handeln nicht, weil sie Angst vor möglichen Terrorakten haben, das ist verständlich. Aber es ist sehr gefährlich, diese Menschen, vor allem die Kinder, sich selbst zu überlassen und sie unter keine adäquate Betreuung zu stellen. Denn so folgen sie weiterhin der IS-Propaganda. Vielleicht fliehen sie irgendwann und gelangen über die Türkei nach Europa. Dort können sie sich IS-Schläferzellen anschließen, die es ja längst in den europäischen Ländern gibt. Sie können dort sehr schlimme Dinge tun, wir haben das in Frankreich, Belgien und anderen Ländern gesehen. Wenn die europäischen Staatsführer die IS-Anhänger nicht zurücknehmen wollen, sollten sie wenigstens die Autonomieverwaltung unterstützen.

ZEIT ONLINE: Wobei genau?

Ahmed: Bei der Errichtung von De-Radikalisierungszentren zum Beispiel und dabei, die IS-Kämpfer vor ein Gericht zu stellen. Auch sollte uns die internationale Gemeinschaft dabei helfen, die Ressourcen in unseren Gefängnissen zu stärken, damit die IS-Kämpfer nicht mehr entkommen und in Europa und anderswo noch mehr Terror verbreiten können. Die kurdischen jungen Männer und Frauen haben jahrelang stellvertretend für die ganze Welt gegen den IS gekämpft und sie waren siegreich. Wir hoffen, dass wir in Zukunft einen Platz in der internationalen Gemeinschaft haben.

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