»Gutes Modell gegen Gewalt«
"Junge Welt", Ausgabe vom 29.11.2019, Seite 15 / Feminismus
Selbstverwaltung in Krisengebiet
Von Gitta Düperthal
Meike Nack ist Sprecherin der »Stiftung der Freien Frauen in Rojava« (WJAR)
Kontakt: wjar2014int@gmail.com
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Wird sich die humanitäre Situation verschärfen?
Wir machen uns große Sorgen, weil der Winter vor der Tür steht. Es gibt zu wenige Unterkünfte, kaum Ärztinnen und wenig Medikamente. Die Türkei beabsichtigt offenbar, die Menschen mürbe zu machen. Heyva Sor, der Kurdische Roter Halbmond, die größte Hilfsorganisation vor Ort, versucht zusammen mit Teilen der Bevölkerung, deren Gesundheitszustand noch gut ist, Geflüchtete zu versorgen.
Die Frauenstiftung WJAR war bisher in der feministischen Bildungsarbeit in Rojava tätig. Müssen Sie jetzt wegen der türkischen Invasion auf Flüchtlingshilfe umsteigen?
In den vergangenen Jahren haben wir mehrere tausend Frauen in erweiterter erster Hilfe ausgebildet, starke Teams mit Frauengesundheitsmitarbeiterinnen aufgebaut. Sie sind in der Lage, Ärztinnen und Ärzte zu unterstützen, Krankheiten zu erkennen. Sie können Verbände anlegen, Spritzen setzen, Infusionen legen, nach medizinischer Erstversorgung eine Folgebehandlung leisten. Sie arbeiten in Krankenhäusern sowie mit Sanitäterinnen und Sanitätern des Heyva Sor. Wir geben unsere Bildungsarbeit nicht auf. Es geht darum, die Selbstorganisierungskraft von Frauen zu stärken.
Kann der Überfall der Türkei das Selbstverwaltungsprojekt letztlich zerstören?
Nein. Weil die Frauen schon zuvor in der Frauenbewegung aktiv waren, sind sie erfahren darin, Probleme zu lösen. Perspektivisch werden die Flüchtlingscamps wieder so organisiert, wie in Rojava bislang alle strukturiert waren – mit Campräten und autonomen Frauenräten. Das ist ein gutes Modell gegen Gewalt in den Camps. Im Gegensatz zu vielen Flüchtlingslagern anderswo finden dadurch kaum Übergriffe auf Frauen statt. Das Projekt der Selbstverwaltung beweist sich in der Krise. Deshalb will die Bevölkerung zum großen Teil in Syrien bleiben und dort an der multikulturellen Gesellschaft festhalten. Nur wenige Menschen, egal ob arabisch, christlich oder kurdisch, wollten in den Nordirak oder nach Europa flüchten. Das ist dem türkischen Regime ein Dorn im Auge. Ihm geht es darum, die Städte zu leeren und sie dann zu besetzen.
Die Zeit vom 4. November titelte schon »Die letzten Tage von Rojava«. Hat dort der Traum von Basisdemokratie, Räterepublik und Feminismus eine Zukunft?
Ich finde es gefährlich, wenn bürgerliche Medien so etwas schreiben. Fragt sich, in wessen Dienst sie sich damit stellen. Die Erfahrung von Rojava wird in den Menschen weiterleben, egal wo sie hingehen. Die Frauenbefreiung und die Räteorganisation, die hier stattgefunden hat, inspiriert und motiviert Menschen international, ob in Lateinamerika oder in Europa – alle, die offen für linke Ideen und Theorien der Basisorganisation sind. Es ist ein überzeugendes Modell und nicht so leicht zu zerschlagen. Es wird auch weiterhin legitime Selbstverteidigung geben.
Protürkische Kämpfer haben aus Frauenhass Kriegsverbrechen wie den Mord an der YPJ-Kämpferin Amara Renas am 21. Oktober, deren Leiche geschändet wurde, begangen. Ihre Kampfgenossin Cicek Kobani wurde am selben Tag von der durch die Türkei befehligten Terrormiliz Ahrar Al-Sham auf brutale Weise gefangengenommen. Führt die Teilnahme von Frauen am militärischen Kampf nicht zu umso härteren Reaktionen?
Die Frauenselbstverteidigungseinheiten YPJ sind legitim. Es ist das Recht eines jeden Menschen, sich zu verteidigen. Die Angriffe der Türkei und der Dschihadisten zielen darauf, die Emanzipation von Frauen mit aller Brutalität zu verhindern. Sie haben gleich am Anfang ihres militärischen Überfalls die bekannte kurdische Politikerin und Frauenrechtlerin Hevrin Khalaf getötet. Deshalb müssen sich die Frauen wehren.
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